In der schlimmstmöglichen Variante ihrer selbst, das zeigen sie der Welt gerade oft genug, sind die Amerikaner heillos zerstritten. In ihrer schönsten Form sind sie sentimental. Deshalb dürfte am Mittwochabend kaum ein Amerikaner nicht berührt gewesen sein beim Anblick von Aaron Judge.
Der Spieler New York Yankees, der nach seiner Karriere im Baseball vermutlich sofort ohne weiteres Training Hollywood-Filmheld werden könnte, stand im achten Abschnitt dieses Finalspiels an der zweiten Base. Die Lage war so: Die Los Angeles Dodgers führten 3:1 in der Best-of-seven-Serie, und sie führten 7:6 in dieser fünften Partie in der Bronx. Sollte nichts mehr passieren, dann wären die Dodgers Meister. Aaron Judge war derjenige Läufer, der auf seiner Position eine vielversprechende Chance hatte, für New York zu punkten – sofern ein Mitspieler den Ball ausreichend gut träfe, um Judge das Erreichen der Homebase zu ermöglichen. Denn dann hätte er dieses Spiel und womöglich die komplette World Series genannte Meisterschaft verlängern können.
Aaron Judge, 32, wartete und wartete, und vielleicht dachte er in diesen Minuten daran, was alles passiert war: Wie er, der strahlende Yankees-Akteur, in dieser Serie zur tragischen Figur geworden war, weil er einfach nicht traf. Wie er im zweiten Abschnitt von Spiel fünf in einem Homerun seine Auferstehung zelebrierte und einen 5:0-Zwischenstand schaffte – was in Los Angeles bereits Nervosität auslöste. Die Dodgers würden doch nicht einen 3:0-Vorsprung verspielen? Und wie ihm, Judge, ein geradezu grotesker Fehler unterlief – er ließ bei einem Routine-Fang den Ball aus dem Handschuh plumpsen –, der das Comeback der Dodgers einleitete.

Nun stand er da an der zweiten Base, Held oder tragische Figur, die nächsten Schlagduelle würden es entscheiden. Judge wartete und wartete, man sah die verzweifelte Hoffnung in seinem Gesicht – jedoch traf kein Kollege. Judge lief mit tieftraurigem Blick zur Ersatzbank. Die Dodgers gewannen. Vielleicht hat in diesem Moment sogar eine Handvoll New-York-Mets-Fans den Anhänger des verhassten Lokalrivalen mitfühlend zugenickt.
Freeman gelingt der erste Walk Off Grand Slam Homerun in der 121-jährigen World-Series-Geschichte
Die Dodgers waren ganz einfach zu gut, das beste Team der Saison. Und sie haben natürlich ebenfalls einen Spieler, über den sie in Los Angeles noch Jahrzehnte später reden werden. So wie über Kirk Gibson in der World Series 1988. Damals wusste Gibson wegen eines lädierten linken Knies und eines verstauchten rechten Knöchels nicht, auf welchem Fuß er humpeln sollte – und doch jagte er den Ball am Ende der ersten Partie auf die Tribüne zum sofortigen Sieg.
In der World Series 36 Jahre später war Freddie Freeman am Knöchel verletzt. Womöglich hätte er gar nicht spielen sollen – trotzdem knüppelte er den Ball am Ende der ersten Partie zur exakt gleichen Uhrzeit, um 20.38 Uhr, in denselben Tribünenblock 306 wie einst Gibson. Die Partie war wie damals sofort vorbei, und weil alle Bases besetzt waren, war es sogar ein sogenannter Walk Off Grand Slam Homerun, der erste in der 121 Jahre zurückreichenden World-Series-Geschichte.
Und das war längst nicht alles: Freddie Freeman, 35, schaffte in jeder der nächsten drei Partien jeweils einen Homerun. Das war ihm auch bei seinen letzten beiden World-Series-Partien für die Atlanta Braves geglückt, für die er bis 2022 gespielt hatte, deshalb ist er nun der erste Spieler im US-Baseball, der in sechs World-Series-Partien nacheinander einen Ball über den Zaun geknüppelt hat.

„Zur richtigen Zeit in Form“, sagte Freeman danach recht locker. Warum angeben oder überhöhen, wenn man es gar nicht nötig hat? Die Lobeshymnen wurden zu diesem Zeitpunkt bereits geschrieben. In der Los Angeles Times bezeichnete der Kolumnist Bill Plaschke die Mannschaft als „die großartigste der Los-Angeles-Dodgers-Geschichte“.
Das stimmt wahrscheinlich sogar – und die Los Angeles Dodgers könnten noch besser werden, dank individuellen Könnens. Der Japaner Shohei Ohtani, der in der Sommerpause vom Lokalrivalen Angels wechselte und einen 700-Millionen-Dollar-Vertrag für zehn Jahre unterschrieb, ist seit dieser Saison der ersten Baseballspieler, der die Marke von 50 Homeruns übertraf – er km auf 54 – und 59 Stolen Bases verzeichnetes. In der World Series ist er blass geblieben, aber in der kommenden Saison wird er auch als Werfer eingesetzt, davon hielt ihn diesmal eine Operation am Wurfarm ab. „Wir freuen uns schon“, sagte Dodgers-Manager Dave Roberts noch am Abend des Triumphs – betonte aber, dass er dann doch erst einmal diesen Titel zu genießen gedenke.
In der schlimmstmöglichen Variante ihrer selbst sind die Amerikaner zerstritten, in ihrer schönsten Form sind sie sentimental. „Los geht’s, Los Angeles: Tanzt mit euren Dodgers“, schrieb Kolumnist Plaschke: „Umarmt euren Nachbarn mit dem Gibson-Trikot, weint vielleicht sogar ein wenig. Das habt ihr euch verdient.“ Man möchte von L. A. nach New York rufen: Umarmt euren Nachbarn mit dem Aaron-Judge-Trikot, auch als Mets-Fans. In ihrer schönsten Form sind die New Yorker die besten Tröster der Welt.