Mixed Martial Arts:Schule fürs Leben

Lesezeit: 4 Min.

Das Inklusionsprojekt "Be Your Own Hero" will Menschen mit Behinderungen zum Kampfsport ermutigen.

Von Benjamin Emonts

Stabil stehen ist das Wichtigste beim Kämpfen. Und, so ruft der Trainer: "Glaubhaft aussehen!" Thomas Eibl tänzelt also von einem Fuß auf den anderen, er schlägt Links-rechts-Kombinationen, Führhand, Schlaghand, eins, zwei, eins, zwei. Der Trainer ruft wieder: "Ihr steht stabil. Easy für Euch!" Eibl, das muss man dazu wissen, steht nur auf einem Bein, das andere ist eine Prothese. Er sieht trotzdem glaubhaft aus, wie es der Trainer fordert. Und das bei einem Kampfsport wie MMA, einem der körperbetontesten auf diesem Planeten.

Die Szene liegt bereits drei Wochen zurück, die Gyms und Kampfsportschulen in Deutschland sind wegen der Coronavirus-Pandemie inzwischen natürlich geschlossen. Das deutschlandweite Inklusionsprojekt "BYOH - Be Your Own Hero", das Menschen mit Handicap und speziell Prothesenträger zum Kampfsport ermutigen will, besteht dennoch fort. Die Essener Intensivkrankenschwester Yasmin Uygun, die das Projekt ins Leben gerufen hat, hält über das Internet Kontakt mit ihren Schützlingen aus ganz Deutschland. Fast täglich posten sie in ihrer Instagram-Gruppe sportliche Herausforderungen, für die sie sich gegenseitig nominieren: Sie gehen fünf Kilometer laufen, machen 20 Liegestütze oder studieren Kampftechniken ein.

Das Training in der Münchner Kampfsportschule MMA war ihr vorerst letztes mit Körperkontakt. Mixed Martial Arts, so heißt der Sport ausgeschrieben, bedient sich Techniken aus dem Boxen, Kickboxen, Taekwondo, Muay Thai und anderen Kampfsportarten. Es wird gerungen, geworfen, geboxt und gekickt, alles im Vollkontakt und mit möglichst wenigen Regeln. Auch für Sportler ohne Beeinträchtigung ist MMA, das durch Käfigkämpfe im Fernsehen bekannt geworden ist, eine echte Herausforderung. An jenem Vormittag in München aber hat sich gezeigt, dass Menschen mit fehlenden oder verkümmerten Gliedmaßen den Kampfsport ebenso ausüben können.

Auch Ringen gehört zum Kampfsport MMA: Der Rosenheimer Etienne Lehner packt sich Trainer Benedikt Schotthöfer. (Foto: OH)

Skeptisch seien ohnehin nur diejenigen, die kein Handicap haben, berichtet Uygun, die Initiatorin. Thomas Eibl, der aus Tittling bei Passau kommt, hat durch einen Motorradunfall seinen linken Unterschenkel verloren. Zwei andere junge Männer tragen Beinprothesen wegen eines Impfschadens und infolge einer Knochenkrebserkrankung. Eibls Freundin Sandra Weber wiederum hat seit Geburt einen missgebildeten Arm. Sie wehrt die Schläge ihres drei Köpfe größeren Gegenübers mit dem linken Ellbogen ab, mit der gesunden Rechten schlägt sie zu. "Diejenigen, die in Anführungszeichen normal sind, denken, Gehandicapte können das nicht", sagt sie. "Aber das ist gar nicht so. Die können das auch."

Das Inklusionsprojekt soll zeigen: Menschen mit Behinderung können kämpfen. Sie können einstecken, austeilen, ausweichen und tänzeln - wie jeder andere auch. Uygun, die selbst unversehrt ist und seit einigen Jahren boxt, hatte daran nie Zweifel. Als sie auf Instagram das Video eines behinderten Boxers gesehen hatte, fragte sie sich, wieso nicht viel mehr Menschen mit Handicap zum Kampfsport ermutigt werden. Sie sicherte sich finanzielle Unterstützung von Prothesenherstellern und gewann die deutsche Profitour German MMA Championship (GMC) als Partner.

Im Tross der GMC bereist sie seither deutschlandweit Großstädte und veranstaltet kostenlose Trainings vor den Kampfabenden der Profis. Unversehrte, meist erfahrene Sportler trainieren dabei mit körperlich behinderten. "Es geht darum, voneinander zu lernen", sagt sie. Mit dem Projekt will die 37-Jährige Vorbehalte und Berührungsängste abbauen. Viele Behinderte hätten zwar keine Angst vor dem Kampfsport, aber befürchteten, von Trainern abgewiesen oder komisch angeschaut zu werden: "Die größte Hemmschwelle liegt unten an der Tür."

Tatsächlich sieht man Prothesenträger im Kampfsport noch verhältnismäßig selten, erst recht bei einer Sportart wie MMA, bei der im Vollkontakt gekämpft wird. Von 600 Mitgliedern in der Schule Munich MMA ist laut Trainer und Leiter Benedikt Schotthöfer bislang kein einziges körperlich behindert. Sportarten wie Leichtathletik oder Radfahren sind bei Menschen mit Handicap immer noch deutlich beliebter. Die bisher größten Angebote für sie gibt es in den Kampfsportarten Judo, Taekwondo, Karate und Boxen. Judo gehört für Sehbehinderte seit 1988 zum Programm der Paralympics. Bei den Spielen in Tokio, die wegen dem Virzs nun um ein Jahr verschoben wurden, soll Taekwondo für Sportler mit Beeinträchtigungen an Armen oder Beinen hinzukommen. Kampfsportarten besetzen dann zwei von 22 Disziplinen bei paralympischen Sommerspielen.

Beim Deutschen Behindertensportverband (DBS) hatte man sich von den Spielen in Tokio einen Schub erhofft. "Neue Disziplinen lassen immer das Interesse und das Angebot wachsen", sagt Pressesprecher Kevin Müller. Eine Zahl, wie viele Beeinträchtigte Kampfsportarten hierzulande betreiben, hat er nicht parat. Müller betont aber: "Menschen mit Behinderung müssen nicht mit Samthandschuhen angefasst werden, nur weil sie eine Beeinträchtigung haben. Wenn es die jeweilige Behinderung zulässt, begrüßen wir die Ausübung von Kampfsportarten."

Sie stärkten nicht nur Fitness, sondern auch Selbstbewusstsein und Persönlichkeit der Sportler. Trainer Benedikt Schotthöfer bestätigt diese Einschätzung. Eine Kampfsportschule sei auch eine Schule fürs Leben, sagt er. Man lerne gegenseitigen Respekt, Freundschaft, Disziplin, Fleiß, Selbstbewusstsein und mentale Stärke. "Es ist ein positiver Ort mit Integration in alle Richtungen. Ich kann nur jeden ermutigen, keine Angst zu haben und es auszuprobieren."

Yasmin Uygun will die Menschen nach der Krise unbedingt weiter dazu ermutigen. Zu ihren Trainings kamen bisher zwischen fünf und 15 Handicap-Sportler, erzählt sie. Die Events in Düsseldorf und Berlin fallen wegen des Coronavirus aller Voraussicht nach aus. Im Herbst in Köln oder Stuttgart könnte es aber weitergehen. "Wir werden definitiv noch Events machen", verspricht Uygun. "Und wir sind zuversichtlich, dass wir noch mehr werden." Thomas Eibl und die anderen beenden nach zwei Stunden ihr Training, das von Konzentrationsübungen über verschiedene Griffe bis hin zu Verteidigungstechniken reichte. "Es ist Wahnsinn, was ihr euch in so kurzer Zeit aufgebaut habt", ruft Trainer Schotthöfer. Der verschwitzte Thomas Eibl antwortet später auf die Frage, was für ihn das Schwierigste gewesen sei: "Die Koordination." Über seine Prothese sagt er nur: "Die ist sowieso eins mit mir."

© SZ vom 28.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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