Mit 77 Jahren am Brett:Ein Schachleben

Unermüdlich selbst mit 77 Jahren: Altmeister Viktor Kortschnoi tritt bei der Schach-Olympiade für die Schweiz an - und erreicht eine gute Bilanz.

Martin Breutigam

Es war schon halb zehn Uhr Sonntagabends, und das Internationale Kongresszentrum, das Raum für ein Fußballfeld böte, war fast menschenleer. Auf mehr als 500 Holzbrettern standen die Springer, Läufer, Türme bereits wieder in ihren Ausgangsstellungen, von denen aus sie an diesem Dienstag, in der letzten Runde der Schacholympiade am Dresdner Elbufer, noch einmal aufeinander losgehen werden. Bloß an Tisch 10 hatte ein Mann immer noch nicht genug, obwohl seine Partie schon eine Stunde zuvor verlorengegangen war: Viktor Kortschnoi, 77 Jahre alt und Spitzenspieler der Schweiz, zeigte einem Großmeisterkollegen, mit welchen Zügen er gegen den Ungarn Peter Leko wohl noch ein Remis hätte erreichen können.

Mit 77 Jahren am Brett: Viktor Kortschnoi vor einigen Jahren bei einem Turnier in der Schweiz.

Viktor Kortschnoi vor einigen Jahren bei einem Turnier in der Schweiz.

(Foto: Foto: AP)

Zwar ist die Schacholympiade, abgesehen vom sportiven Charakter, mit rund 1300 Spielern aus über 140 Nationen eine Begegnungsstätte der Kulturen, aber sie ist auch ein Treffen der Generationen. Und keiner trotzt den biologischen Grenzen so wie Kortschnoi. Während frühere, teils wesentlich jüngere Rivalen ihre Karrieren längst beendet haben und nur zum Zuschauen nach Dresden gekommen sind, sitzt "Viktor der Schreckliche", wie sie ihn zu seinen besten Zeiten nannten, immer noch mittendrin. Schach soll anstrengend sein? "Ja, das Leben ist anstrengend", sagt Kortschnoi. Schließlich habe er Bücher mit dem Titel "Ein Leben für das Schach" geschrieben.

"Eine Kämpfernatur"

In seinem Fall scheinen Leben und Schach ein und dasselbe zu sein. "Er ist eine unglaubliche Kämpfernatur", sagt Boris Spasski, der zwölfte Weltmeister der Schachgeschichte. Spasski, 71, erinnerte in Dresden daran, dass für Bobby Fischer, der ihn 1972 als Weltmeister ablöste, "jede Niederlage eine Tragödie war". Kortschnoi hingegen scheue sich weder vor dem im Alter unvermeidlichen Qualitätsverlust seiner Partien noch vor Niederlagen. "Er kann drei Partien hintereinander verlieren, aber dann gewinnt er die vierte und ist glücklich", sagt Spasski.

In Dresden hat Kortschnoi einmal gewonnen, dreimal verloren und fünfmal remis gespielt. Und meistens gegen spielstarke Großmeister, die seine Enkel sein könnten. Selbst Anatoli Karpow, 57, dem Kortschnoi nach seiner Flucht aus der Sowjetunion in zwei WM-Kämpfen, 1978 und 1981, unterlegen war, lobt den früheren Erzfeind. "Ich schätze es, dass er in seinem Alter auf diesem hohen Niveau spielt. Er ist sehr ehrgeizig, spielt alles Mögliche, phantastisch", sagt Karpow.

Nur ein Spieler mit Kortschnois Hingabe

Mit dem Kampf um die Medaillen haben Kortschnois Schweizer jedoch erwartungsgemäß nichts zu tun. Vor der heutigen Schlussrunde führen Armenien und die Ukraine mit je 17 Punkten vor Israel und China (je 16). Deutschland (13) ist nach einer weiteren 1,5:2,5-Niederlage, diesmal gegen die USA, auf den 18. Platz zurückgefallen. Bei den Frauen behaupten die Polinnen (17 Punkte) einen knappen Vorsprung vor der Ukraine, Georgien und Serbien (je 16); die deutschen Frauen stehen auf dem 23. Platz.

Von den heutigen Topspielern scheint nur einer sein Leben mit ebensolcher Hingabe dem Schachspiel zu widmen wie Kortschnoi: Wassili Iwantschuk. Allein das Minenspiel des 39-jährigen Schachgenies aus Lwiw/Ukraine ist ein Erlebnis; etwa wenn er wieder einmal in Gedanken versunken zur Decke starrt und dabei minutenlang eine Augenbraue massiert. "Wassili ist sehr kreativ. Leider schien lange Zeit sein Nervensystem nicht stark genug zu sein, um Weltmeister zu werden", bedauert Spasski. "In letzter Zeit hat er aber irgendwie eine innere Balance gefunden, und ich freue mich über seine Erfolge."

Starke Nerven wird Iwantschuk auch am Dienstag im Kampf um die Goldmedaille brauchen, denn am Spitzenbrett gegen die USA trifft er auf den Weltcup-Gewinner Gata Kamsky.

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