Die Skination Österreich ist hochnervös in diesen Tagen. Der alpine Skisport ist ein Nationalheiligtum, und die passenden Heiligen werden bevorzugt bei Olympia gemacht. Sechs bis elf Medaillen, so die Schätzungen in Österreich, könnten allein die alpinen Athletinnen und Athleten in Südkorea gewinnen. Perfekte Bilder von perfekten Spielen als Illustration einer perfekten Wintersportnation: Das ist der Plan, so war es immer.
Doch hinter der Kulisse eines modernen, erfolgreichen Skifahrer-Landes toben seit geraumer Zeit die Geister der Vergangenheit. Es geht um schwere sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen, in Ski-Internaten, in Leistungskadern, durch Trainer, Serviceleute, Funktionäre. Die Anschuldigen reichen zwar zum Teil 50 Jahre zurück, aber sie betreffen Säulenheilige dieses Sports, Namen, auf denen die Ski-Nation ihren Ruhm aufgebaut hat.
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Österreich bebt, seitdem im November 2017 erste Enthüllungen öffentlich wurden. Der Süddeutschen Zeitung liegen nun neue Erklärungen von früheren Leistungssportlerinnen vor, in denen eine der prominentesten Figuren überhaupt aus dem alpenländischen Skizirkus als Beschuldigter auftaucht: Karl "Charly" Kahr, einer der erfolgreichsten Trainer des Österreichischen Ski-Verbandes (ÖSV). Und in seinem Dunstkreis fällt auch erneut der Name der Ski-Legende Toni Sailer.
Die Vorwürfe gegen den heute 85-jährigen früheren Coach Kahr, der von 1966 bis 1970 die österreichischen Alpinfrauen trainierte und später, dann als Trainer des Männerteams, Franz Klammer zum Olympiasieg 1976 in Innsbruck führte, reichen von sexueller Nötigung bis zu Vergewaltigung. Die SZ hat Kahr mit Details zu drei konkreten Vorwürfen konfrontiert, erhoben von zwei Frauen, gestützt von einer weiteren. Über einen Anwalt ließ der frühere Star-Trainer mitteilen: "Namens und auftrags meines Mandanten habe ich Ihnen mitzuteilen, dass die gegen meinen Mandanten erhobenen Vorwürfe samt und sonders aus der Luft gegriffen sind und kein einziger der von Ihnen genannten Vorfälle jemals stattgefunden hat."
Christiane Egger, die in Wahrheit anders heißt, ist Ende der 1960er-Jahre ins Nationalteam des ÖSV hineingewachsen. Mit 16 Jahren war sie schon im Weltcup eingesetzt worden, Charly Kahr trainierte damals das Frauenteam. Egger sagt, ihr Verhältnis zu ihm sei gut gewesen - bis zu einem Vorfall im Winter, der sich so ereignet habe, wie sie ihn der SZ, untermauert mit einer eidesstattlichen Erklärung, schildert:
"Ich habe schon geschlafen, da ist Kahr auf einmal ins dunkle Zimmer gekommen und hat mich vergewaltigt. Ich habe ihn erst bemerkt, als er schon auf mir lag. Er war ganz sicher nicht betrunken. Ich hätte mich wehren sollen. Aber das traust du dich in dem Moment nicht. Er war mein Trainer, du hast zu ihm aufgeschaut als 16-jähriges Mädchen. Der Trainer hat ja immer eine besondere Rolle für die Jugend. Ich war jedenfalls total geschockt, da kannst du nicht um Hilfe rufen. Ich bin einfach dagelegen, habe keine Reaktion gezeigt. Er hat auch nichts gesagt, es hat sich alles im Dunkeln abgespielt. Ich hatte zum Glück keine Verletzungen. Aber ich habe die ganze Nacht geweint. Ich war ein junges Mädchen, ein bisschen dumm und unerfahren, da hat er diese Situation natürlich ausgenutzt."
Sie habe sich fürchterlich geschämt, sagt Christiane Egger, erst ein halbes Jahr später habe sie dann einer Teamkollegin davon erzählt. Diese Frau versichert der SZ ebenfalls per eidesstattlicher Erklärung, dass sie damals von Egger informiert worden sei. Nach dem Vorfall, sagt Egger, habe sie stets das Weite gesucht, wenn Kahr aufgetaucht sei. Heute sagt sie: "Ich weiß, dass ich nicht die Einzige war."
Christiane Egger habe die Erinnerung lange verdrängt, sagt sie; wenn ihr Mann das Gespräch darauf brachte, habe sie es abgewürgt. Erst, als mit der #MeToo-Debatte immer mehr Frauen über sexuellen Missbrauch durch Männer in Machtpositionen berichteten und bald auch von Missbrauch und Vergewaltigungen im österreichischen Alpinsport die Rede war, habe sie die eigene Erinnerung zugelassen. Ihre Kinder hätten bemerkt, wie die Enthüllungen sie beschäftigten, sie hätten nachgehakt. Da habe sie beschlossen, sagt Christiane Egger, nicht mehr zu verdrängen.
In Österreich war es die heute 59 Jahre alte Nicola Werdenigg, unter ihrem Mädchennamen Nicola Spieß in den 1970er-Jahren Weltcup-Fahrerin und Olympia-Teilnehmerin, die im November 2017 als Erste das Schweigen überwunden hatte. Sie selbst sei Opfer einer Vergewaltigung geworden, erzählte sie der Tageszeitung Standard, sie habe ein "Klima des Missbrauchs" während ihrer aktiven Zeit und danach gespürt. Das Thema war gesetzt: Aus österreichischen Ski-Internaten wurden zuletzt fast jede Woche neue Verdachtsfälle von Missbrauch und Erniedrigung an die Öffentlichkeit getragen, und neue Details eines alten Skandals um das Idol Toni Sailer erschütterten Österreich.
50 Fälle protokolliert: die ehemalige Skiläuferin Nicola Werdenigg.
(Foto: picture alliance / ZEITUNGSFOTO.AT)Laut Standard hat die österreichische Regierung die mutmaßliche Vergewaltigung einer Frau im polnischen Zakopane durch Sailer im März 1974 vertuscht. Der in Kitzbühel geborene und 2009 im Alter von 73 Jahren gestorbene Sailer war eine Lichtgestalt des österreichischen Sports, vergleichbar mit dem Fußballer Franz Beckenbauer hierzulande. Der "Blitz von Kitz" gewann 1956 in Cortina drei Mal olympisches Gold, später lernten ihn seine Landsleute auch als Schauspieler und Sänger kennen, 18 Platten nahm er auf.
Im Gerede war Sailer freilich auch damals schon. Im Magazin Stern erschien 1976 eine wenig schmeichelhafte Bestandsaufnahme des zu jener Zeit mäßig erfolgreichen österreichischen Skisports, in der es unter anderem hieß: "Da gibt es einen verantwortlichen Cheftrainer namens Toni Sailer, der als sportlicher Leiter bei weitem nicht so durchschlagskräftig war wie in Hotelbars oder in polnischen Betten" - eine Anspielung auf den Vergewaltigungsvorwurf von 1974. Der Artikel aus jener Zeit beschreibt das anscheinend hemmungslose Après-Ski-Klima im damaligen Alpinsport, in das wohl auch Charly Kahr gut passte - als laut Stern "nachweislich überdurchschnittlich geselliger Mann, der mit seinem Freund Toni Sailer auch dann feierte, wenn es - wie so oft - eigentlich nichts zu feiern gab". Immerhin, konstatierte ein Funktionär, habe sich "der Charly" in seinem Wesen "grundlegend verändert. Er sauft nicht mehr so wie früher und ist auch neuen Ideen viel aufgeschlossener".
Kahr war 1972 als Abfahrtstrainer der Männer zum ÖSV zurückgekehrt und 1976 zum Cheftrainer aufgestiegen, nachdem er von 1970 bis '72 die alpine englische Frauennationalmannschaft betreut hatte. "Downhill-Charly" nannte ihn die Öffentlichkeit, vor allem wegen der Erfolge seines Schülers Franz Klammer. Sein Typ aber lag auch nicht allen Männern, der Slalomfahrer Klaus Heidegger etwa moserte einmal in Richtung Kahr: "Wir brauchen Helfer und keinen Offizier."