Missbrauch in Südkorea:Jeden Tag Tränen

Missbrauch in Südkorea: Allein: Triathletin Choi Suk-hyeon trainierte in Gyeongju in einem Klima von Gewalt und Erniedrigung.

Allein: Triathletin Choi Suk-hyeon trainierte in Gyeongju in einem Klima von Gewalt und Erniedrigung.

(Foto: AFP)

Der Tod der Triathletin Choi Suk-hyeon erschüttert Südkorea - und entlarvt den Sport als System, das Missbrauch ermöglicht. Beginnt nun eine ernsthafte Aufarbeitung?

Von Thomas Hahn

Die letzte Nachricht schickte Choi Suk-hyeon an ihre Mutter. Die Nachricht enthielt eine Bitte, die sich wie ein Manifest ihrer Verzweiflung las nach Jahren des Martyriums als Spitzensportlerin im Triathlonteam des Rathauses von Gyeongju, Provinz Nord-Gyeongsang, Südkorea. Choi Suk-hyeon hatte die Schläge nicht mehr ertragen, die sie ständig einstecken musste, die Schikanen, die Erniedrigungen. Sie war zu Beginn des Jahres nach Busan gewechselt und hatte Anzeigen erstattet gegen Gyeongju-Cheftrainer K., gegen zwei ältere Teammitglieder und den Physiotherapeuten A., weil diese körperliche und verbale Gewalt gegen sie angewendet hätten. Aber es passierte so gut wie nichts. Chois letzte Nachricht an die Mutter lautete: "Bitte bringt die Verbrechen derer, die mich missbraucht haben, ans Licht."

Die Triathletin Choi Suk-hyeon, 22, Dritte der Junioren-Asien-Meisterschaften von 2015, wurde am 26. Juni in ihrer Wohnung in Busan tot aufgefunden. Ihr Suizid hat in Südkorea eine Welle der Empörung ausgelöst. Am Dienstag mahnte sogar Staatspräsident Moon Jae-in eine lückenlose Aufklärung und angemessene Strafen an, falls sich die Vorwürfe bestätigen. "Missbrauch und Gewalt gegen Athleten sind das Vermächtnis vergangener Zeiten und kann man nicht rechtfertigen", sagte Moon bei einer Kabinettssitzung.

Das klang gut, aber die Wahrheit ist: Missbrauch und Gewalt gegen Athleten sind im südkoreanischen Sport noch kein Vermächtnis vergangener Zeiten - Behörden und Verbände wollen das nur noch nicht so richtig schlimm finden. Die Shorttrack-Olympiasiegerin Shim Suk-hee machte Anfang 2019 bekannt, dass der Nationalcoach Cho Jae-beom sie jahrelang missbraucht hatte. Südkoreas Nationale Menschenrechtskommission leitete mit diversen Ministerien eine Sonderermittlung an Südkoreas Sportschulen ein. Ergebnis: 15,7 Prozent von 63000 Talenten hatten in ihrem Trainingsalltag verbalen Missbrauch ertragen müssen, 14,7 Prozent körperlichen und vier Prozent sexuellen. Ein Sportsystem, das von herrischem Ehrgeiz und bedingungslosem Gehorsam geprägt ist, war entlarvt - und damit war noch gar nichts über die Zustände in den Leistungssportkadern der Erwachsenen gesagt. Die Verbände wirkten unbeeindruckt.

"Körperlicher und verbaler Missbrauch waren übliche Vorgänge", berichten Zeugen

Jetzt ist der Tiefpunkt erreicht - und zwar, wie es aussieht, nach vergeblichen Hilferufen. Im April hatte Choi Suk-hyeon ihre Not dem Koreanischen Triathlonverband und dem Koreanischen Sport- und Olympia-Komitee mitgeteilt. Ihre Anzeige bei der Polizei datiert vom Februar. Erst am vergangenen Donnerstag erklärte die Staatsanwaltschaft, sie habe Ermittlungen aufgenommen und werde die Verdächtigen befragen - knapp eine Woche nach Chois Tod.

Choi Suk-hyeons Familie hat mittlerweile tiefere Einblicke in den Trainingsalltag von Gyeongju gewährt. Sie hat die Audio-Aufnahmen und Aufzeichnungen im Sender YTN TV veröffentlicht, die Choi wohl auch bei ihren verschiedenen Anzeigen zum Beweis ihrer Erfahrungen eingereicht hatte. Demnach stand Choi Suk-hyeon ständig unter Druck, wegen ihres angeblich zu hohen Gewichts. Einmal musste sie zur Strafe Gebäck im Wert von 200 000 Won, knapp 150 Euro, essen und wieder erbrechen, weil sie zugenommen habe. Mehr als 20 Mal sei ihr ins Gesicht, auf Brust oder Bauch geschlagen worden, "weil ich einen Pfirsich gegessen habe, ohne vorher Bescheid zu sagen". Auf einer Aufnahme ist eine Männerstimme zu hören: "Komm her! Spann deine Backen an!" Es folgt das Geräusch von Schlägen. In ihrem Tagebuch vermerkt Choi, sie würde jeden Tag weinen und "lieber sterben", wenn sie weiter "wie ein Hund geschlagen" werde.

Andere Leidtragende bestätigen die Vorwürfe. Am Montag gaben eine ehemalige Teamkollegin und ein Teamkollege von Choi Suk-hyeon aus Gyeongju in Seoul eine Pressekonferenz. Sie blieben anonym und hatten ihre Gesichter hinter Masken verborgen, aber ihre Sprache war klar: Sie entschuldigten sich dafür, Choi Suk-hyeon nicht früher beigestanden zu haben bei ihren Anzeigen. Sie sagten: "Unser Triathlon-Team in Gyeongju war ein Reich des Trainers und einiger ausgewählter Athleten. Körperlicher und verbaler Missbrauch waren übliche Vorgänge." Bei den Zeugenanhörungen habe die Polizei von Gyeongju Chois Anzeigen heruntergespielt. Der konservative Parlamentarier Lee Yong, einst Cheftrainer des südkoreanischen Bob-Teams, hatte die Pressekonferenz arrangiert und berichtete von weiteren Vorfällen, die ihm insgesamt sechs Mitglieder des Gyeongju-Triathlonteams anvertraut hätten.

Zum Beispiel habe der Trainer ein Teammitglied derart geohrfeigt, dass dessen Trommelfell riss. Ein anderes sagte, der Trainer habe Minderjährige dazu gezwungen, bis zum Erbrechen Alkohol zu trinken, weil das abhärte; davon hatte auch Choi berichtet. Manche Athletinnen sagen außerdem, Physiotherapeut A. habe sie sexuell belästigt, unter anderem nachdem er behauptet hatte, ein Mediziner von der Universität zu sein. Bei vermeintlichen ärztlichen Untersuchungen habe er sie gegen ihren Willen berührt.

Zehn Jahre Sperre

Chefcoach K. und die beiden belasteten Teammitglieder bestreiten die Anschuldigungen. Der parlamentarische Unterausschuss für Sport bestellte sie am Montag zu einer Notfallsitzung in Seoul ein. K. sagte: "Als ihr Trainer gebe ich den Fehler zu, dass ich von den Schlägen gegen sie nichts mitbekommen habe." Er habe niemals Athleten geschlagen, im Gegenteil. "Ich habe versucht, A. davon abzuhalten, Athleten zu schlagen, wenn ich Geräusche gehört habe." Der Nationale Triathlon-Verband fand das nicht glaubwürdig und handelte diesmal sehr schnell. Er sperrte K. sowie ein Teammitglied lebenslang, das zweite Teammitglied für zehn Jahre.

Von A. war noch nichts zu hören. Er sei schwer aufzufinden, erklärten Sportvertreter aus Gyeongju. Er sei in Behandlung wegen Krebs. Und sperren konnte der Triathlonverband ihn nicht, weil er nicht offiziell registriert gewesen sei. Der Gyeongju-Mannschaft war A. nur zeitweise bei Übersee-Trainingslagern zu Diensten. Sowohl der Triathlonverband als auch Gyeongjus Sport-Assoziation erklärten, sie würden nach den Anschuldigungen Strafanzeige wegen gewaltsamer Angriffe und sexueller Verbrechen gegen A. stellen.

Auf einmal ist Bewegung im Kampf gegen die Gewalt in Südkoreas Spitzensport. Zu spät für Choi Suk-hyeon.

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