Missbrauch im Sport:Das System aufbrechen

Tokio 2020 - Turnen

Plant ein alternatives Trainingsprojekt, ohne verbale oder sonstige Gewalt: Pauline Schaefer-Betz, hier beim Gewinn der WM-Silbermedaille 2021.

(Foto: Marijan Murat/dpa)

Der Sport, egal ob Freizeit oder Elite, hat ein Sicherheitsproblem. Doch um Schülerinnen und Schüler vor Missbrauch zu schützen, brauchen Vereine und Verbände endlich eine unabhängige Kontrolle.

Kommentar von Volker Kreisl

Sport, dieser Begriff hatte immer einen besonderen Klang. Freiheit und Freude schwang da mit, Geselligkeit, Freunde und die Möglichkeit, sich zu messen, vielleicht sogar exzellente Leistungen zu vollbringen, ja, einmal der oder die Beste zu sein. Heute hat dieses Bild von der heilen Welt tiefe Risse, global und vermutlich auch schon immer, schleppt der organisierte Sport ein Problem mit, das er ungewollt selbst schafft: Viele seiner Zöglinge werden bevormundet, erniedrigt, beleidigt, misshandelt und auch vergewaltigt.

Ein Drittel der in Deutschland trainierenden, meist jungen Sportlerinnen und Sportler, hat schon Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt gemacht, wie eine Studie 2016 ergab. Eine republikweite Folgestudie untersucht den aktuellen Stand an Missbrauchshandlungen und die Frage, wie effektiv oder unzulänglich im Sport eigentlich Übergriffe verhindert werden. Zu befürchten ist im kommenden Jahr ein weiteres schlimmes Ergebnis.

Denn die bekannten Ursachen wirken fort: Fast nirgendwo in der Gesellschaft finden Trainer und Betreuer derart leicht Zugang zu Kindern wie im Sport. Das ist zunächst normal, allerdings auch ein Risiko. Nicht selten entstehen Vertrauensverhältnisse zwischen Trainern und - womöglich stark talentierten - Anvertrauten, die über einen Spruch, man sei zu fett oder zu faul, oder über wiederholt seltsame Berührungen hinwegsehen, immer wieder, auch wegen der angeblich tollen Karriereprognose.

Die Turngruppe der Schwebebalken-Spezialistin Pauline Schäfer könnte ein Vorbild werden

Derartige Fälle wurden hierzulande in den vergangenen Jahren im Schwimmen, Turnen, im Judo oder im Eiskunstlauf publik, es dürfte nur ein kleiner Ausschnitt des Problems sein. Denn auch die Institution, das "System Sport" ist indirekt beteiligt. Die Verbände arbeiten weitgehend autonom, zudem stehen auch sie finanziell unter Druck, sind mit Alltagssorgen beschäftigt und müssen im dauernden Wettstreit um mediale Aufmerksamkeit Erfolge nachweisen. Auch deshalb kann die interne Aufklärung nicht wirklich effektiv sein, selbst wenn der Dachverband DOSB dies zuletzt beteuerte. Viele, wenn auch versteckte Hinweise von Betroffenen werden wohl noch dem Erfolg untergeordnet, anders sind die Quoten an Übergriffen nicht zu erklären.

Daher muss endlich, da das Thema Sicherheit international immer größer wird und schon das Label "Safe Sport" trägt, der alte Verlauf aufgebrochen werden. Beim Turnen in Chemnitz etwa bietet eine Gruppe um die Schwebebalken-WM-Zweite Pauline Schäfer eine eigene Turn-Gruppe an, die sich dem gewaltfreien und dennoch hochklassigen Training verschreibt. Dies könnte ein Beispiel für andere werden. Und auch in der großen Sportpolitik werden wohl entscheidende Weichen gestellt. Statt der Verbände, also der eigenen Arbeitgeber, sollen weitgehend neutrale Instanzen die Aufklärung übernehmen. Wie es aussieht, läuft es auf die SportlerInnen-Vertretung "Athleten Deutschland" hinaus oder die Anti-Doping-Agentur Nada, auf Hilfe aus dem Innenministerium oder eine Kombination aus allem.

Die Stellen wären im Idealfall niemandem Rechenschaft schuldig, und sie haben zugleich profunde Kenntnisse von den Strukturen im Sport. Dennoch wird die Arbeit nicht einfach sein. Im Extremfall geht es um hilfesuchende Minderjährige, deren Eltern eher dem Sportsystem glauben. Die Aufgabe erfordert Einfühlung, Zeit und Geld für geschulte Experten. Und wenn die Quote der Vorfälle in der neuen Studie nur annähernd bestätigt würde, dann käme auf die Helfer und auch die Verbände enorm viel Arbeit zu. Für einen Sport, wie er sein sollte, würde es sich lohnen.

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