Süddeutsche Zeitung

Leichtathletik:Der mutige Absprung der Malaika Mihambo

Die Weitsprung-Weltmeisterin trainiert künftig bei den großen, alten Olympiasiegern Carl Lewis und Leroy Burrell in Texas. Der deutsche Verband gratuliert, ist aber auch verwundert.

Von Johannes Knuth

So eine Zeit sei immer auch eine Chance, hatte Malaika Mihambo vor Kurzem erst im Gespräch gesagt, als die Corona-Pandemie auch die Leichtathletik gerade in den Stillstand gezwungen hatte. Sie berichtete, wie sie jetzt halt in Ruhe eine Rückenverletzung auskuriere, sie erzählte auch, wie es sie freue, ihre digitalen Sportstunden Tag für Tag von ihrem Wohnzimmer aus für Grundschüler anzubieten. Dabei spürte man, dass sie auch schon wieder daran dachte, wohin es sie als nächstes tragen könnte: Sie arbeite daran, sich ein neues "Warum" zu geben, sagte sie, um herauszufinden, "wohin ich will". Auch wenn sie da noch nichts Genaues sagen könne.

Seit diesem Wochenende steht das neue Reiseziel nun fest: Malaika Mihambo, Weitsprung-Weltmeisterin von Doha 2019 und Sportlerin des Jahres in Deutschland, will sich spätestens im August nach Houston, Texas, aufmachen, sofern es die Corona-Lage in den USA erlaubt. Ihre neuen Trainer tragen schillernde Namen: Leroy Burrell und Carl Lewis. Burrell war 1992 Olympiasieger mit der US-Staffel, Lewis ist immerhin neunmaliger Olympiasieger im Sprint und Weitsprung. "King Carl" war eineinhalb Jahrzehnte lang das Gesicht der Leichtathletik, "eine Mischung aus Maradona, Michael Jackson und Madonna", wie die französische Zeitung Le Monde einst dichtete. Das steht erst mal im Kontrast zu einer Athletin, die meist in sich ruht, als sei sie als Kind lebenslang gegen Nervosität geimpft worden; die seit 2005 beim TSV Oftersheim trainiert, auf einer Tartanbahn unter Haselnussbäumen in der badischen Provinz; und die sich von dort aus mit einem Vollzeit-Lehrer und Hobby-Trainer in Richtung Weltspitze aufgemacht hat. Im vergangenen Jahr verlor sie nicht einen Wettkampf im Weitsprung. Ein Jahr so vollkommen wie eine Mozartsche Sinfonie.

Carl Lewis kann Menschen schnell für sich einnehmen

Dass ihr neues, transatlantisches Bündnis nun viel Erstaunen auslöste, wäre eine Untertreibung: Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) wünschte seiner Athletin in einer Mitteilung zwar pflichtgemäß "alles Gute", machte sich aber gar nicht erst die Mühe, seine Verwunderung zu verhüllen. Mihambo, ließ der DLV wissen, habe den Verband sehr kurzfristig unterrichtet, ehe sie ihren Umzug in der Bild am Sonntag publik machte. Auch habe sie diverse Angebote ausgeschlagen, weiter in Deutschland zu trainieren. Das klang wie bei besorgten Eltern, die den Abenteuerdrang des gerade volljährigen Nachwuchses mit Stirnrunzeln begleiten.

Mihambo selbst erklärte, dass sie Lewis erst vor ein paar Wochen bei einem Online-Termin kennengelernt habe - offenbar lanciert vom gemeinsamen Sponsor Nike. "Sehr inspirierend" sei der Austausch gewesen. Und wer Lewis einmal erlebt hat, weiß, dass der 58-Jährige wenig von seinem Selbstbewusstsein verloren hat, er kann Menschen schnell für sich einnehmen. "Es so weit zu schaffen auf zwei Sprint-Strecken, der Staffel, im Weitsprung", sagte Mihambo mit Blick auf die Karriere ihres neuen Mentors, "das bewundere ich." Schon allein, weil sie seit vergangenem Jahr versucht, den Sprint als Zweitgewerbe zu etablieren. Sie sei ihrem langjährigen Trainer sehr dankbar, führte sie aus, aber was ihr neues Projekt angehe, sei es halt auch so: "Nur wer diesen Weg beschritten hat, kann ihn auch lehren." Und jetzt, ein Jahr vor den Olympischen Spielen in Tokio, sei "genau der richtige Zeitpunkt" gekommen, etwas Neues zu wagen, als Mensch und Athlet. Wie bei einem mutigen Absprung nach langem Anlauf.

Mihambo hatte bei aller Bodenständigkeit immer auch eine entdeckerische Seite, von Foto-Shootings für Modezeitschriften bis zu Rucksackreisen nach Thailand. Ihr jüngstes Unterfangen ist allerdings auch mit Risiko beladen. "Ich würde sagen, dass ich ein sensibler Mensch bin", hatte sie vor Kurzem noch gesagt, sie könne schon allein deshalb "nicht ganz so hart" trainieren wie andere Athleten. Der behutsame Ansatz ihres Trainers Ralf Weber war deshalb stets wichtig: Der hatte die Trainingsmittel immer der Athletin angepasst, nicht umgekehrt. Das amerikanische College-System, an dem Burrell und Lewis lehren - Burrell seit mehr als zwei Jahrzehnten als erfolgreicher Chefcoach der University of Houston, Lewis seit 2014 als dessen Assistent - ist da etwas anders konzipiert: Der Erfolg der Mannschaft steht über allem, Athleten werden gerne mal wie Diamanten gesehen, die erst unter Druck zu ihrer Pracht gelangen. Wobei Mihambo dort vermutlich ein paar besondere Bürgerrechte genießen wird.

Im DLV fürchten sie dennoch, dass "methodische Veränderungen" eine ihrer größten Hoffnungen ein wenig aus der Spur werfen könnten, ein Jahr vor den Tokio-Spielen. Dabei habe Mihambos Entwicklung ja gezeigt, "dass unser Sprungtrainerteam ein international sehr hohes Niveau hat und Titelgewinne mit unserem Fördersystem absolut erreichbar sind", richtete DLV-Präsident Jürgen Kessing aus. Das war freilich auch ein mutiger Satz. Zum einen war sein Sprung-Ressort zuletzt nicht gerade mit gewaltiger Präsenz in der Weltspitze aufgefallen, mit Ausnahme von: Mihambo. Der DLV selbst hatte Mihambo vor drei Jahren auch noch aus der höchsten Förderstufe genommen, nach einer schweren Verletzung - obwohl sie damals als EM-Dritte und Olympia-Vierte schon ihr großes Potenzial vorgeführt hatte. Ihr Trainer war mächtig verärgert ("nicht das richtige Signal an die Athleten"), auch wenn der Verband die Förderung bald wieder aufstockte. Der eifrige Wissensaustausch, wie in anderen Ressorts im DLV, werde bei den Weitspringerinnen jedenfalls kaum kultiviert, sagte Weber vor einem Jahr. Dass seine Zusammenarbeit mit Mihambo nun endete, liegt dem Vernehmen nach in erster Linie daran, dass der Familienvater sich aus privaten Gründen zurückziehen musste.

Für den Verband steckt in Mihambos Schritt eine weitere unbequeme Botschaft: Die mündigen Athleten, die der DLV gerne fordert, nutzen ihre Mündigkeit seit einer Weile auch, um Schwächen im System zu entblättern. Vor Mihambo waren Mittelstreckenläuferin Konstanze Klosterhalfen und Sprinterin Gina Lückenkemper in die USA gewechselt; das Trainingsumfeld ist dort selbst am College oft professioneller, die Konkurrenz stärker. Wobei es nicht immer das hellste Licht ist, in das sich die Athleten rücken. Klosterhalfen schloss sich Ende 2018 dem dopingumwitterten Nike Oregon Project an, dessen früherer Cheftrainer Alberto Salazar Ende 2019 wegen Dopingvergehen gesperrt wurde (die er abstreitet). Lückenkempers neuer Trainer Lance Brauman betreute auch positiv getestete Athleten wie den US-Sprinter Tyson Gay, auch wenn Brauman selbst nie belangt wurde. Und Carl Lewis? Der wurde vor den Spielen 1988 erwischt, mit einem hübschen Stimulanz-Cocktail aus Pseudoephedrin, Ephedrin, Phenylpropanolamin. Ein Nahrungsergänzungsmittel, das er versehentlich genommen hatte, beteuerte Lewis. Das amerikanische Olympia-Komitee glaubte ihm. In Seoul rauschte er knapp hinter dem gedopten Ben Johnson ins Ziel, der später seinen Sieg an Lewis verlor.

Aber auch in der Hinsicht bietet sich für Mihambo in Houston ja sicherlich die Gelegenheit, ein bisschen nachzufragen - und sich weiterzuentwickeln.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4923955
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 02.06.2020/sonn
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.