Süddeutsche Zeitung

Radfahrer Miguel Indurain:Der Mann, dessen Herz nur 28 Mal pro Minute schlägt

Vor 25 Jahren gewinnt der Baske Miguel Indurain als erster Radfahrer zum fünften Mal in Serie die Tour de France. Eine Dominanz, die Spanien eint - und Zweifel heraufbeschwört.

Von Lisa Sonnabend

Als Miguel Indurain La Plagne hinaufstrampelte und zu einer der imposantesten Attacken der Tour-Geschichte ansetzte, erhob er sich nicht aus dem Sattel, er blieb einfach sitzen. Meter um Meter verkürzte der Spanier den Rückstand auf den Rivalen Alex Zülle. Er schob sich immer näher heran, als würde er nicht die Alpen hinaufkraxeln, sondern geradeaus fahren. In Indurains Gesicht war kein Anzeichen von Anstrengung zu lesen, er keuchte nicht. Manche wollen gar beobachtet haben, wie er ab und zu lächelte. "Zerstückelt" habe er die Konkurrenten, schrieb die französische Sportzeitung L'Équipe.

Es war die neunte Etappe der Tour de France 1995, die Vorentscheidung: Indurain überholte den zwischenzeitlich um mehr als fünf Minuten enteilten Zülle zwar nicht mehr, kam aber dicht heran und behielt das Gelbe Trikot. Zwölf Tage später, am 23. Juli 1995, rollte der damals 31-Jährige über die Champs-Élysées zu seinem fünften Tour-Titel. Ein Radsport-Rekord. Jacques Anquetil, Eddy Merckx und Bernard Hinault gewannen die Tour genauso oft, doch Indurain gelang dies als erstem Fahrer fünfmal in Serie. Einige Zeit später übertraf ihn dann Lance Armstrong, doch dem Amerikaner wurden alle sieben Titel wegen Doping wieder aberkannt. Dass Indurain seine Erfolge auf saubere Art und Weise erzielte, ist im notorisch verseuchten Radsport natürlich nicht gerade wahrscheinlich. Während seiner Karriere wurde er mehrmals mit Doping in Verbindung gebracht, verurteilt wurde der Bauernsohn aus dem navarresischen Pamplona nie.

Als ein Teil der Erklärung für seine Erfolge gilt zumindest: Mit einer Größe von 1,88 Metern und einem Gewicht von fast 80 Kilo war Indurain ungewöhnlich massiv für einen Radfahrer, die Hebelwirkung ideal, der Antritt kraftvoll. Einmal wurde bei ihm ein Ruhepuls von 28 Herzschlägen pro Minute gemessen, ein so niedriger Wert wie bei keinem anderen gesunden Menschen. Seine Lungenkapazität betrug 7,2 Liter Sauerstoff - doppelt so viel wie beim Durchschnittsbürger.

Indurain, der seine ganze Karriere lang für den Rennstall Banesto fuhr, verhalf 1988 seinem Teamkollegen Pedro Delgado zum Tour-Sieg. Ein Jahr später gewann er erstmals eine Etappe, 1990 war er schon fitter als Delgado. Im Jahr drauf legte die Radmaschine richtig los: Indurain gewann die Tour Jahr für Jahr, 1992 und 1993 sogar zusätzlich den Giro d'Italia. Seine Stärke: das Zeitfahren. Indurain war ein Taktierer, er ruhte in sich, vermochte es wie kein anderer zu leiden. "Du musst immer am Limit fahren, so dass die Schenkel fast platzen", sagte er 1995.

Bei seinem fünften Tour-Sieg war Indurain nicht mehr so unangefochten, die Konkurrenz wurde stärker, Zülle und Bjarne Riis (die beide später Doping zugaben) kamen ihm nahe. Doch Indurain kämpfte. Als er in Paris eingetroffen war, fragten sich alle: Gewinnt er noch ein sechstes Mal? Doch 1996 verlor er auf der Etappe, die durch seinen Heimatort führte, acht Minuten, er wurde nur Elfter. Wenige Wochen später holte er in Atlanta Olympiagold. Bei der Vuelta musste er dann aufgeben und trat zurück. Längst war der Baske zu einer nationalen Ikone aufgestiegen. "Indurain hat Spanien mehr geeinigt als jeder andere", schrieb der Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán.

Nach dem Karriereende zog sich Indurain auf einen Bauernhof zurück. Nur selten tritt er in die Öffentlichkeit, nicht immer findet er die richtigen Worte. "Da ist etwas Merkwürdiges im Spiel", sagte er, als Armstrongs Dopingsystem aufflog: "Seine Feinde wollen eine schöne Trophäe erobern."

Indurain selbst wurde 1994 positiv auf Salbutamol getestet, doch wegen eines Asthma-Attests entlastet. 2013 schließlich wurden Kontakte von Indurain zum umstrittenen Mediziner Francesco Conconi bekannt, der mit Epo experimentiert hatte. Bewiesen werden konnte ihm nichts. Es bleiben Zweifel - und Indurain fünf Tour-Titel.

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SZ vom 23.07.2020/sonn/cat
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