Mesut Özil sitzt im Wintergarten des deutschen Teamhotels, er hat wieder sein Öffentlichkeitsgesicht dabei. Mit diesem Gesicht ist er bisher ganz gut durch die Tage von Danzig gekommen, es ist ein Gesicht, das er auf zwei unterschiedliche Gesichtszüge programmieren kann. Ich kann noch besser spielen, ich habe noch Luft nach oben, sagt der eine Gesichtszug. Ich bin mit meiner Leistung bisher zufrieden, sagt der andere.
Mesut Özil versuchte im letzten Gruppenspiel der DFB-Elf gegen Dänemark viel, doch er hatte es schwer gegen Manndecker William Kvist.
(Foto: Getty Images)Es könnte alles so einfach sein für Mesut Özil bei diesem Turnier. Er müsste nur in jedem Spiel zwei Tore schießen und etwa sieben vorbereiten, und vielleicht müsste er noch sagen, dass er in diesem Jahr Weltfußballer werden will. Er wäre der Star, alle wären stolz auf ihn, und irgendeiner dieser enthemmten Fußballfernsehsender würde im Archiv unter Garantie die Stimme von José Mourinho auftreiben.
Özil sei der beste Zehner der Welt, hat der Trainer von Real Madrid gesagt. Man würde Özil vor laufender Kamera darauf ansprechen, er würde ein drittes Gesicht zücken, jenes, das auf Bescheidenheit programmiert ist - und dann könnte man noch mal die zwei Tore und sieben Torvorbereitungen dagegen schneiden. Es wären herrliche Bilder.
In Wirklichkeit hat sich diese Europameisterschaft noch kein Bild gemacht von Mesut Özil. Das 1:0 der Deutschen gegen Portugal: Flanke Khedira, Kopfball Gomez. Das 1:0 und das 2:0 gegen Holland: Pass Schweinsteiger, Schuss Gomez. Das 1:0 gegen Dänemark: Vorlage Müller, Ballberührung Gomez, Tor Podolski. Und das 2:1 gegen Dänemark: Das war natürlich dieser Lauf des vielfach gerühmten Lars Bender.
Dem Tor von Bender ging übrigens ein Pass von Mesut Özil voraus. Aber das ist keinem so recht aufgefallen bisher, findet jedenfalls Mesut Özil. Und wenn, dann heißt es höchstens, dass Özil ja eigentlich Klose anspielen wollte, und dass Bender nur treffen konnte, weil der Pass bei Klose nicht ankam.
Mesut Özil fühlt sich nicht ganz gerecht behandelt zurzeit, er fühlt sich unter Wert besprochen. Er sagt das so nicht, er zieht sich meistens hinter sein Gesicht zurück, nur manchmal gestattet er einen kleinen Blick in seine Künstlerseele. "Ich bin keine Maschine, bei der immer alles perfekt klappt", sagt er dann. Oder er sagt: "Ich schaue nicht auf die Noten in den Zeitungen." Das sagen Fußballer immer dann, wenn sie auf die Noten in den Zeitungen schauen.
Die Geister, die er rief, ist Özil in der Vorrunde nicht ganz los geworden. Er hat das Pech, dass er so viel Glück hatte, dass ihn die Natur mit überwältigendem Talent ausgestattet hat. Das führt zu dem Konflikt, dass die einen (die Zuschauer) dieses Talent immer sehen wollen, während die anderen (die Gegner) es immer bekämpfen. So haben die Dänen am vorigen Sonntag zum Beispiel beschlossen, einen ihrer besten Mittelfeldspieler zu opfern.
Sie haben den Stuttgarter William Kvist im Grunde freiwillig aus dem Spiel genommen und ihn fast ausschließlich mit der Verfolgung von Özil beauftragt. Es war eine Art Manndeckung, mitten im Jahr 2012. "Und es war ja nicht nur einer", sagt Özil, "es ist zurzeit meistens so: Wenn ich den Ball habe, kommen immer gleich mehrere auf mich zu. Gegen mich will sich jeder Gegenspieler besonders beweisen."
Mesut Özil weiß jetzt endgültig, was es bedeutet, ein Spieler von Real Madrid zu sein. Vor zwei Jahren, bei der WM in Südafrika, war alles noch neu und niedlich, Özil war Gesicht und linker Fuß einer weltweit bestaunten Integrations-Elf. Aus dem Migrationshintergrund müsste Özil schießen, das war die Überschrift, unter der die Elf damals Sport trieb, aber jetzt ist daraus ein Vordergrund an Pflichten und Ansprüchen geworden. "Die Erwartungen an mich sind extrem hoch", sagt Özil, "bei Real Madrid genauso wie bei Nationalmannschaft."