Argentinien:Sisyphos macht weiter

Copa América Argentinien Brasilien Messi

Freud und Leid: Lionel Messi bleibt erneut die Chance auf die Copa verwehrt, Brasilien ist im Finale.

(Foto: Natacha Pisarenko/AP)
  • Bei der Copa América scheidet Argentinien im Halbfinale gegen Brasilien aus.
  • Lionel Messi, 32, wartet damit weiter auf einen Titel mit der Nationalelf.
  • Nach dem Spiel schimpft er auf die Schiedsrichter, denkt aber nicht an Rücktritt.

Von Javier Cáceres, Belo Horizonte

Auch Argentiniens Verbandspräsident Hernán Tapia kam durch die Mixed Zone des Estádio Mineirão von Belo Horizonte gelaufen; wie so oft, den Hemdkragen offen unterm dunklen Paletot. Man tritt Tapia nicht zu nahe, wenn man ihn als einen grobschlächtig gezeichneten Mann bezeichnet, wiewohl sie ihn in Argentinien "El Chiqui" nennen, den "Kleinen". Seine Frisur erinnert an einen Infanteristen, seine hintere Halspartie ist sichtlich gewellt, und es bedarf keiner großen Anstrengung, den Straßenkehrer in ihm zu erkennen, der er tatsächlich einmal war.

"El Chiqui" also, der Kleine, zog schweigend durch das Gehege, das Reporter und Protagonisten trennt; und er sagte, wie so viele argentinische Spieler, die er wie einen Schweif hinter sich her zog, nichts. Beziehungsweise dann doch: Als er die Frage eines Radioreporters hörte ("Was hast du vom Schiedsrichter gehalten, Chiqui?"), da straffte er sein Gesicht zu einem spöttischen, sarkastischen, kurzum: vielsagenden Lächeln. Es war Antwort genug.

Mit 2:0 (1:0) hatte Brasilien gegen Argentinien im Halbfinale der Copa América gewonnen, und es war ein Spiel gewesen, das sich einreihte in die aufwühlendsten Partien der Saison, in Spiele wie Liverpool gegen Barcelona, Tottenham gegen ManCity, Ajax gegen Tottenham in der europäischen Champions League. Was haften blieb von dieser Partie? Durch ein deutsches Prisma betrachtet zum Beispiel die Erkenntnis, dass es an der Stätte des 7:1-Siegs der DFB-Auswahl gegen Brasilien bei der WM 2014 auch Spiele zwischen zwei Kolossen des Weltfußballs geben kann, die ebenbürtig sind und sich mit fast schon religiöser Passion bekämpfen. Oder: dass die Stimmung auf den vollbesetzten Rängen zwischen Hysterie und Bellizismus changiert. Was jedem Zeugen abschließend erklärte, warum Argentinier und Brasilianer ihr Duell, den "Clásico" Südamerikas, für das größte Duell des Planeten halten, mit einem Gast von einem anderen Stern: Messi, "ein Außerirdischer", wie Brasiliens Trainer Tite ihn nannte.

"Uns wurden zwei klare Elfmeter verweigert", wettert Messi

Der Clásico gab alles her: Fußball, aber auch Scharmützel auf dem Platz; brasilianische Militärpolizisten, die auf argentinische Fans einschlugen; ein Hagel aus Plastikbechern auf den Rängen; eine Ehrenrunde des rechtsextremen Staatschefs Bolsonaro in der Halbzeit, bei der er lernte, dass die Verwünschungen lauter waren als die "Mito"-Rufe seiner Fans. Und es gab einen Schiedsrichter namens Roddy Zambrano, der aus der ecuadorianischen Heimat und wohl auch aus der Schule von Byron Moreno stammt. Das war der Referee der legendären Partie der WM 2002, bei der Italien trotz des Weihwassers von Trainer Trapattoni gegen Gastgeber Südkorea ausschied, und der später in Ecuador gesperrt wurde, weil er ein Spiel verschoben hatte.

Insbesondere Argentiniens Kapitän Lionel Messi, 32, schäumte wegen Zambrano und dem Videoschiedsrichter (VAR) Leodán González aus Uruguay. So wie alle Argentinier: "SinVARgüenzas", wortwitzelte die Zeitung Olé am Mittwoch; "sinvergüenzas" stehen im Spanischen für schamlose Lumpen. Zambrano habe "das Spielfeld sehr zugunsten der Brasilianer gekippt", in der Anfangsphase Argentinien mit gelben Karten und kleinlichen Pfiffen für die Brasilien aus dem Konzept gebracht, "das sind Sachen, die dich am Ende aus der Fassung bringen", klagte Messi. Dass der VAR bei, gelinde gesagt, extrem strittigen Szenen untätig blieb, verstörte im Mineirão nicht nur Messis zutiefst. "Bei dieser Copa wurden sie nicht müde, jeden Scheiß zu pfeifen: Handspiele, schwachsinnige Elfmeter... Nur hier wurde der VAR nicht konsultiert. Uns wurden zwei klare Elfmeter verweigert", wetterte Messi.

Brasiliens Kapitän Dani Alves zeigte sich "einverstanden", "der Referee wirkte nervöser als wir". An einer mutmaßlichen Elfmeterszene war Alves beteiligt: Mitten in der Drangphase Argentiniens trat er Sergio "Kun" Agüero im Strafraum um; der Pfiff unterblieb, der Kontrollblick auf den Bildschirm auch. Stürmer Gabriel Jesus, der nach Vorarbeit durch Alves und Roberto Firmino das 1:0 erzielt hatte (19.), konnte zum Konter ansetzen und Firmino zum 2:0 bedienen (71.). Die zweite elfmeterreife Szene folgte, nachdem der Endstand hergestellt war. Brasiliens Mittelfeldspieler Arthur schlug Otamendi den Ellbogen im Strafraum ins Gesicht. Doch die Schiedsrichter warfen die Frage auf, was diese Einrichtung namens VAR soll, wenn sie bei so offensichtlichen Straftaten nicht eingreift.

Die nächste Copa findet schon 2020 statt

Messi, der erstmals bei diesem Turnier auf der Höhe seines Potenzials war und vor den Augen seines früheren Barça-Kollegen Neymar (derzeit verletzt) von den brasilianischen Fans sogar bejubelt und trotz der tief empfundenen Feindschaft mit Szenenapplaus bedacht wurde, Messi zielte mit seiner Kritik auf den Südamerikaverband. "Ich hoffe, die Conmebol unternimmt was", sagte Messi und revidierte die Erwartung dann doch umgehend: "Ich glaube nicht, dass das passiert. Brasilien lenkt (in der Conmebol) alles." Vor allem hatte die Conmebol bei der Copa América ein großes Problem: leere Ränge.

Nun steht Brasilien praktischerweise am Sonntag in Rio im Finale, das Maracanã-Stadion wird ausverkauft wie am Dienstag das Mineirão. Messi hingegen muss am Samstag in São Paulo das Spiel um den dritten Platz bestreiten. Im Wissen darum, dass er weiter warten muss auf das, was ihm auch an diesem Dienstag versagt blieb, an dem er einmal den Pfosten traf und Agüero zu einem Kopfball an die Querlatte verhalf: ein Titel mit Argentiniens Männerteam. Und: ein Sieg oder ein eigenes Tor in einem Pflichtspiel gegen Brasilien. In seinem 33. Lebensjahr.

Mit anderen Worten: Viele Chancen hat Messi nicht mehr, Argentinien zu einer Trophäe zu führen, den Schatten des mythisch verehrten Weltmeisters Diego Maradona kleiner werden zu lassen. Im kommenden Jahr findet, weil die Conmebol den Austragungsrhythmus der Copa América an die Europameisterschaften anpassen will, die nächste Südamerikameisterschaft statt, in Argentinien und Kolumbien.

Ob er mit 35 an der WM 2022 in Katar teilnehmen wird, hat Messi zuletzt mit Verweis auf sein Alter offengelassen. Im Mineirão bekannte er, vorerst weitermachen zu wollen, den Stein also weiter den Berg hinauf zu rollen, wie ein argentinischer Sisyphos, der seine eigene Utopie verfolgt: den Makel zu tilgen, der ihn von etwas Unerreichbarem trennt, der Perfektion. Es liegt etwas Tragisches und Melancholisches darin, doch auch etwas Vitalisierendes. Denn Messi verfolgt etwas, das man einen Belo Horizonte nennen könnte: den schönen Horizont eines Traums, der sich immer fortbewegt, je häufiger man auf ihn zutritt. Und was soll einem Menschen mehr Leben einhauchen als ein Traum, mag er auch noch so unerreichbar sein.

Zur SZ-Startseite
FILE PHOTO: Soccer - International Friendly - Brazil v Qatar

SZ PlusZé Roberto im Interview
:"Neymar könnte der Beste sein"

Der einstige Bayern-Profi Zé Roberto über die Rivalität zwischen Brasilien und Argentinien vor dem Halbfinale bei der Copa - und den seltsamen Fall des Neymar.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: