Man könnte den französischen Fußball bei dieser Europameisterschaft anhand gewisser Zahlen durchaus als erfolgreich darstellen: Den Gruppensieger Österreich haben Les Bleus 1:0 besiegt. In ihren drei Gruppenspielen haben sie nur ein einziges Gegentor zugelassen – und dieses auch nur per Elfmeter. Keines ihrer drei Gruppenspiele haben sie verloren, und damit sind sie seit 2016 bei drei Europameisterschaften und in insgesamt neun EM-Gruppenspielen unter dem Nationaltrainer Didier Deschamps ungeschlagen. Nach dem 1:1 gegen Polen am Dienstagabend in Dortmund sagte Deschamps dann auch noch: „Ich bin zufrieden, weil wir die Gruppe bestehen wollten.“
Ja, ihre Gruppe haben sie als Zweitplatzierte bestanden – aber mehr halt auch nicht. Statistiken kann man drehen und wenden. Wer bei Frankreichs 1:0 gegen Österreich durch ein Eigentor von Maximilian Wöber, wer beim 0:0 gegen die Niederlande und wer nun beim 1:1 gegen Polen durch zwei Elfmeter gesehen hat, wie sich die sündteuren französischen Angreifer Kylian Mbappé, Ousmane Dembélé, Randal Kolo Muani, Marcus Thuram, Antoine Griezmann und Olivier Giroud die Zähne ausgebissen und in drei aufeinanderfolgenden Spielen keinen einzigen Treffer aus dem laufenden Spiel heraus erzielt haben – der tut sich doch schwer damit, Frankreich, den EM-Finalisten von 2016, Weltmeister von 2018 und WM-Finalisten von 2022, wieder als Mitfavoriten bei dieser EM zu betrachten.
Deschamps hat derlei Skepsis gespürt, als er nach dem Spiel im Presseraum des Dortmunder Stadions auf dem Podium saß und sich kritische Fragen gefallen lassen musste. Er hat sie weggelächelt, immer wieder lakonisch die Schultern gezuckt und kokett Unverständnis durchklingen lassen. Solch demonstrative (oder soll man sagen: provokative) Gelassenheit kannte man vom deutschen Weltmeistertrainer Joachim Löw bei den Turnieren nach dem 2014er-Triumph.
Auch Deschamps bemüht dieser Tage die Souveränität des vermeintlich unanfechtbaren Weltmeistertrainers. Er sagte nach den drei Gruppenspielen mit fünf Punkten und 2:1 Toren: „Die Mannschaft ist präsent, sie ist solide, sie zeigt Teamgeist und erarbeitet sich viele Torchancen, bei denen, zugegeben, ein bisschen mehr Präzision hilfreich gewesen wäre; aber diese drei Spiele werden uns nützen, wenn wir jetzt fünf Tage freihaben – und mit dem Achtelfinale beginnt ja ein ganz neuer Wettbewerb.“
Frankreich hat öfter als Spanien auf das gegnerische Tor geschossen
Insgesamt 49 Mal binnen viereinhalb Stunden haben die Franzosen in ihren drei Gruppenspielen auf das gegnerische Tor geschossen – das ist einmal öfter als Spanien, 18 Mal öfter als Österreich und 21 Mal öfter als England. Häufiger aufs Tor geschossen hat bei dieser EM bislang bloß Deutschland (57 Mal). Und so sagte Deschamps, was angesichts einer solchen Statistik jeder Trainer sagen würde: „Ich wäre viel besorgter, wenn wir uns keine Torchancen herausspielen würden.“
Für den maßgeblichen Teil der herausgespielten Torchancen war im ersten und im dritten Spiel Kylian Mbappé zuständig – auch für die beiden Treffer. Den ersten (das Eigentor des Österreichers Wöber) hat er mit einer scharfen Flanke provoziert, und den zweiten zum 1:0 gegen Polen (56.) hat er per Elfmeter erzielt, nachdem Dembélé gefoult worden war. Dieses 1:0 war Mbappé erstes EM-Tor überhaupt in seinem fünften EM-Spiel seit 2021. Gegen Ende des ersten Spiels hatte sich der 25-Jährige in einem Luftduell einen Nasenbeinbruch zugezogen, im zweiten Spiel hat er deswegen pausiert und nun gegen Polen mit einer Carbonmaske gespielt. „Er muss sich an diese Maske noch ein bisschen gewöhnen“, verriet Deschamps, „zum Beispiel läuft ihm darunter der Schweiß in die Augen.“ Dass Mbappé am Dienstagabend von sechs Torschüssen nur den Elfmeter verwandeln konnte, könnte also auch an der durchaus hinderlichen Maske gelegen haben.
Deschamps musste sich von französischen Journalisten während der Pressekonferenz kritische Fragen gefallen lassen, etwa, warum er Antoine Griezmann draußen gelassen und erst in der 61. Minute eingewechselt habe. Er beantwortete dies sinngemäß mit der Souveränität seines Amtes. Wen Deschamps im Achtelfinale am kommenden Montag in Düsseldorf ins Mittelfeld und in den Angriff beruft, ist angesichts von bislang null Treffern aus dem laufenden Spiel heraus mit die spannendste Frage bei den in Ostwestfalen logierenden Franzosen. Dadurch, dass sie gegen Polen einen Sieg und damit den ersten Platz in der Gruppe verpasst haben, spielen sie im K.-o.-Turnierbaum nun auf jener Seite, die mit Mannschaften wie Spanien, Portugal und Deutschland gespickt ist. Ob das Deschamps verunsichert? Aber selbstverständlich nicht. Frankreichs Weltmeistertrainer ruht in sich.