Süddeutsche Zeitung

Querelen im Eisschnelllauf:"Das klingt wie ein Maulkorb"

Gleich nach seiner Ernennung zum Eisschnelllauf-Präsidenten sorgt Matthias Große, der Lebensgefährte von Claudia Pechstein, für Unruhe. Die Athletensprecher berichten über die Angst vieler Sportler, offen ihre Meinung zu sagen.

Interview von Barbara Klimke

Die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG) kommt nicht zur Ruhe. Seit November war das Präsidentenamt vakant, im Juni wurde der Berliner Geschäftsmann Matthias Große, 52, kommissarisch eingesetzt - eine Personalie, die auf Kritik der Sportler stieß. Im Interview erläutern die Athletensprecher des Verbands, Moritz Geisreiter und Leon Kaufmann-Ludwig, ihre Sorgen und erklären, welche Erwartungen sie an das Präsidium haben.

SZ: Herr Geisreiter, Herr Kaufmann-Ludwig: Die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft ist einer der kleinsten Sportverbände Deutschlands mit nur rund 2900 Mitgliedern. Sie wirkt aber wie einer der Verbände mit dem größten Zank. Weshalb?

Moritz Geisreiter: Die DESG ist klein, das stimmt. Deshalb hätte sie eigentlich gute Voraussetzungen, sich nach innen zu einigen und nach außen stark aufzutreten. Wir erleben gerade eine unangenehme Phase der Kontroversen. Ich bin aber optimistisch, dass das bald wieder in eine bessere Richtung geht.

Nun hat Ihr Verband seit Juni einen neuen, kommissarisch eingesetzten Präsidenten: Matthias Große, den Lebensgefährten von Claudia Pechstein. In einem offenen Brief hat Große einen "Neuanfang" ausgerufen. Er wirbt für ein "faires, respektvolles Miteinander". Die Belange der Sportler sollten in den Vordergrund rücken. Welche Erwartungen haben Sie?

Geisreiter: Die Erwartungen an Matthias Große hatten wir ja schon früh formuliert: dass er einigend auftritt; dass er überparteilich wirkt; dass er abseits von den Eigeninteressen seiner Partnerin Claudia Pechstein agieren kann.

Leon Kaufmann-Ludwig: Den offenen Brief fand ich teilweise sehr gelungen. Es ist da von Transparenz, Einbeziehung der Sportler, Überwinden von persönlichen Befindlichkeiten die Rede. Der Verband hat einiges aufzuholen. Deshalb hoffen wir, dass es eine Zusammenarbeit gibt, die zu einem konstruktiven Weg findet - auch wenn einige Versprechen offenbar schon wieder über Bord gegangen sind. Ich hatte mir auch deshalb einiges erhofft, weil eines der größten Wahlversprechen die finanzielle Sicherheit des Verbandes war. Das hat Herr Große mit der Vorstellung eines neuen Sponsors schon eingelöst. Aber ich finde es schade, dass der Sponsorenvertrag erst im September starten soll, nicht schon jetzt; und dass er an seine Präsidentschaft geknüpft ist. Das kann als Zeichen missverstanden werden, dass einem die Präsidentschaft wichtiger ist als das Allgemeinwohl.

Im September findet die ordentliche Mitgliederversammlung der DESG statt, auf der der kommissarische Präsident sich dann zur Wahl stellen muss.

Geisreiter: Die Knüpfung des Sponsors an die eigene Person sehe ich auch kritisch. Es ist positiv für den Verband, wenn Geld da ist. Aber die Kollateralschäden, die damit einhergegangen sind, sind erheblich.

Sie spielen auf eine der ersten Amtshandlungen des neuen Präsidiums an: die Entlassung des Eisschnelllauf-Bundestrainers Erik Bouwman, mitten in der Saison. Wurden die Athleten da zurate gezogen?

Geisreiter: Meines Wissens nicht. Wir haben das aus der Presse erfahren.

Kaufmann-Ludwig: Ich denke, das war kein Zufall. Es muss Herrn Große klar gewesen sein, dass es dafür keine Zustimmung der Athleten gab. Es waren ja nur Claudia Pechstein und Matthias Große, die einen öffentlichen Streit mit Bouwman hatten.

Geisreiter: Diese Rückmeldung habe ich auch: Athleten, die mit mir sprechen, sagen, sie sehen keinen anderen Profiteur als Pechstein und Große. Sie würden gerne mit Bouwman weiterarbeiten.

Die Kündigung hatte eine Vorgeschichte: Der Zwist zwischen Pechstein und dem Bundestrainer eskalierte im Winter, als Bouwman sie "boshaft" und "populistisch" und ihr Auftreten zum "Kotzen" nannte. Große argumentiert nun, dies zeige fehlenden Respekt, darunter habe das Ansehen des Verbands gelitten. Er sagte: "Ein Bundestrainer, der die erfolgreichste Winterolympionikin zum Kotzen findet, ist nicht der richtige." Das Verbandswohl gehe da vor. Wie sehen Sie das?

Geisreiter: Sicherlich muss das in Betracht gezogen werden. Mit dieser Wortwahl darf man sich in einem Verband natürlich nicht äußern. Aber das weiß Bouwman selbst. Meines Wissens hat es ja auch eine Aussprache gegeben. Die Sache war eigentlich beigelegt. Aber wenn Matthias Große das zu einem verbandsbelastenden Vorfall erhebt, dann misst er mit zweierlei Maß. Denn die Kündigung eines Bundestrainers mitten in der Saison ist ebenso verbandsschädigend: Sie stellte eine Gruppe von Athleten vor große Ungewissheit, sie stört massiv die sportliche Entwicklung zu dieser Zeit. Ist das nicht verbandsschädigender, als einen persönlichen Konflikt aushalten oder klären zu müssen?

Ist das der Kollateralschaden, von dem Sie sprachen?

Geisreiter: Das ist das eine. Aber ich sehe seit einigen Wochen auch mit Sorge das Entstehen einer gewissen Angst, die eigene Meinung zu sagen. Seit der kommissarischen Präsidentschaft kommen Sportler auf mich zu und sagen - ungefragt - dass sie Bedenken haben, ihre Meinung zu äußern, weil sie nicht wissen, ob sie dann ihren Kaderstatus behalten. Solche Anfragen habe ich schon mehrfach erhalten, ohne dass ich das Gespräch suchte.

Kaufmann-Ludwig: Das kann ich bestätigen. Einige Sportler haben Interviewanfragen abgelehnt, weil sie fürchten, dass das gegen sie verwendet wird. Auch fürchten jetzt einige, dass es zukünftig zur Regel wird, dass solch weitreichende Personalentscheidungen über die Köpfe der Athleten hinweg getroffen werden.

Aber der neue Präsident hat doch extra einen Ideen- und Kummerkasten eingerichtet auf der Homepage. Die Athleten sollen sich direkt an ihn wenden können mit Verbesserungsvorschlägen, Sorgen und Nöten.

Kaufmann-Ludwig: Der Kummerkasten ist für die Sportler wenig wert, wenn sie gleichzeitig Bedenken haben, die Meinung zu äußern. Per E-Mail wurden alle Athleten, Angestellten und Wahlämter der DESG "inständig gebeten", dass man alle Interviewanfragen direkt an die Pressestelle weiterleiten und sich nicht direkt äußern solle. Das klingt aus meiner Sicht wie ein Maulkorb. Jetzt denken viele ganz genau nach, ob und mit wem sie kritische Gedanken teilen.

Geisreiter: So funktioniert das einfach nicht: Matthias Große will für alle sprechen - aber er hat es versäumt, eine Entscheidung wie die Entlassung des Bundestrainers erst einmal nach innen abzuklären. Er müsste nach innen einen Konsens suchen - und dann damit nach außen gehen. Nur dann würde es Sinn machen zu sagen: Ich spreche für alle.

Haben Sie sich mit dem neuen Präsidenten denn schon ausgetauscht?

Geisreiter: Ich stehe im Kontakt mit ihm. Ich habe per E-Mail einen persönlichen Termin gemeinsam mit Leon angefragt. Den hat er grundsätzlich zugesagt. In der Zwischenzeit sind weitreichende Entscheidungen getroffen worden ...

Kaufmann-Ludwig: ... und die können wir nicht unkommentiert lassen. Denn unsere Aufgabe als Athletensprecher ist es ja, die Meinung der Athleten laut zu machen.

Sie hatten beide Großes Kandidatur nicht unterstützt und sich sehr früh im Winter positioniert. Sie, Herr Geisreiter, nannten ihn wiederholt "ungeeignet". Warum?

Geisreiter: Meine Skepsis bezog sich auf den Interessenskonflikt, einerseits für seine Lebensgefährtin einzutreten, andererseits überparteilich für den Verband. Ich sehe ihn auch als jemanden, der bereitwillig und knallhart Konflikte austrägt, deshalb habe ich bezweifelt, dass er einigend auftreten kann. Jetzt ist er kooptierter Präsident, jetzt hat er eine Chance verdient. Aber nach zwei Amtshandlungen, der Kündigung des Bundestrainers und der Maulkorb-Mail, bin ich wieder skeptischer.

Das ist Ihre persönliche Meinung. Wie war das Stimmungsbild der Athleten? Haben Sie damals für die Mehrheit in ihrer jeweiligen Sparte sprechen können, für die Eisschnellläufer und Shorttracker?

Geisreiter: Ich hatte zunächst meine persönlichen Erfahrungen. Und dann haben wir die Athleten gefragt; es war uns wichtig, die Einschätzung der anderen zu hören. Wir haben Ende Januar, Anfang Februar 2020 das Feedback der fast geschlossenen ersten Mannschaften aus Shorttrack und Eisschnelllauf eingeholt: Das waren die EM- und Weltcup-Teams im Shorttrack und die WM-Mannschaft im Eisschnelllauf. Wir haben drei Fragen gestellt: Würdet ihr Matthias Große als Präsident der DESG begrüßen? Welche Hoffnungen/Sorgen habt ihr bei der Vorstellung von Matthias Große als DESG-Präsident? Welche Informationen wünscht ihr euch zu diesem Thema noch? Unserer Meinung nach war das ergebnisoffen formuliert.

Haben alle geantwortet?

Geisreiter: Alle Eisschnellläufer mit Ausnahme von zweien; und im Shorttrack waren es neun aus zehn. Somit haben wir 17 Rückläufe.

Und wie war der Tenor?

Geisreiter: Mehrheitlich sehr skeptisch gegenüber Matthias Große, der damals Kandidat war. Es gab keinen, der sich klar für ihn ausgesprochen hat. Die einzigen hoffnungsvollen Äußerungen richten sich auf seine Versprechungen, die DESG finanziell zu stärken und gewissermaßen zu strukturieren. Allerdings war das mit dem Hinweis versehen, dass er sich nicht in den sportlichen Bereich einmischen sollte. Eine Entlassung von Erik Bouwman wurde damals schon von den Athleten befürchtet.

Kaufmann-Ludwig: Bei den Shorttrack-Athleten war das Meinungsbild sehr ähnlich. In den Antworten kam darüber hinaus auch der Wunsch zum Ausdruck, dass der Verband geeint wird: dass die Sparten Shorttrack und Eisschnelllauf nicht mehr in zwei Lager getrennt sind. Im Shorttrack hat man immer das Gefühl, dass man zu kurz kommt, dass man als der kleine Bruder betrachtet wird. Das wird jetzt leider auch durch die Kommunikation von Matthias Große bestätigt. In allen Äußerungen hat er bisher von dem Bundestrainer gesprochen, als gäbe es nur einen. Wir haben unsere eigenen Bundestrainer im Shorttrack. Der Presse entnommen habe ich, dass er sich Ende Juli mit den Athleten zum Sommereis der Eisschnellläufer treffen wolle. Einladungen an uns Shorttracker gab es nicht.

Allerdings muss auch erwähnt werden, dass die DESG nach dem Rücktritt der Verbandschefin Stefanie Teeuwen von November bis Juni nur ein Rumpfpräsidium hatte: zwei Vizepräsidenten, mehr nicht. Das Präsidium wieder handlungsfähig zu machen, war ein Grund für die kommissarische Einsetzung von Herrn Große.

Geisreiter: Ich muss klar sagen: So führungsschwach, wie der Verband zuletzt auftrat, war das auch kein tragbarer Zustand. Die DESG hätte ohne Matthias Große nicht so weitermachen können wie bisher. Es ist demotivierend, wenn ein Verband keine Leitung hat, mit der man sich identifizieren kann. Aber Konflikte sind halt auch nicht leistungsfördernd.

Sportlich, auch das gehört zur Analyse, ist der einst so medaillendekorierte Eisschnelllauf in die Erfolglosigkeit geschlittert. Oder sehen Sie das anders?

Kaufmann-Ludwig: Das stimmt natürlich. In beiden Sparten sind die Leistungen signifikant gesunken. Im Shorttrack hatten wir nach 2014 einen Bruch in der Athletenstruktur: Viele ältere Sportler haben aufgehört. Die Jüngeren mussten mit vielen Bundestrainerwechseln klarkommen. Teilweise war das auch den Querelen im Verband geschuldet. Aber wir haben natürlich Anna Seidel, die in den letzten Wintern regelmäßig Medaillen gewonnen hat.

Geisreiter: Im Eisschnelllauf brauchen wir nicht lange zu diskutieren: Da sind wir meilenweit von früheren Zeiten mit den Olympiasiegerinnen Friesinger, Pechstein und Niemann-Stirnemann entfernt. Natürlich muss da wahnsinnig viel passieren. Aber das braucht einen gewissen Vorlauf, und ich sehe gerade in den Ansätzen des Trainergespanns Daan Rottier, Erik Bouwman und Danny Leger erste Früchte. Wir sind nicht mehr an Punkt null. Da wurde was angestoßen. Zum Beispiel mit Lukas Mann, der 2019 Junioren-Weltmeister über 5000 Meter war.

Aber was sagt das aus über den Verband, wenn Claudia Pechstein mit 48 noch immer die beste Athletin der DESG ist?

Geisreiter: Das sagt zum einen aus, dass Claudia Pechstein mit einem beneidenswerten Talent gesegnet ist; zum anderen, dass der Nachwuchs lange nicht so stark ist, wie er sein müsste. Und drittens: dass da eine ganze Generation ausgefallen ist.

Trotz aller Differenzen haben sich alle Streitparteien immer auf eines einigen können: das schlechte Image des Verbandes. Bouwman sprach von einer "Schlangengrube". Große nannte die DESG "erfolglos, ideenlos, führungslos". Seine Vorgängerin Teeuwen sprach von Anfeindungen. Macht es das noch schwerer für Sportler, in diesem Klima Hochleistung zu bringen?

Kaufmann-Ludwig: Ich war ja letzte Saison noch aktiv. Und ich muss gestehen, dass das tatsächlich ablenkt, wenn man bei Weltcups am Start steht und jeden Tag neue Aussagen hört. Als Aktivensprecher ist man noch mehr damit konfrontiert, weil man von den Sportlern angesprochen wird. Im Frühjahr habe ich zwölf Mal pro Woche trainiert und am Feierabend neben der Uni noch Anfragen beantwortet, da hatte ich das Gefühl: Jetzt ist es etwas viel.

Geisreiter: Zu solchen Querelen äußern sich Sportler nicht gern. Daran merkt man schon, dass es sie Energie kostet. Ich kenne das aus eigener Haut: Das ist anstrengend, das stört die eigentlich motivierende eigene tägliche Trainingsarbeit. Die Sportler würden sich eigentlich wünschen, dass man sie in Ruhe lässt mit diesen Verbandsthemen.

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Quelle:
SZ vom 16.07.2020/ska
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