Matthias Ginter:Ab sofort auch genial

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Das DFB-Team braucht dringend Innenverteidiger. Der Gladbacher zeigt, dass er mehr sein kann als der unterschätzte Ersatzmann.

Von Ulrich Hartmann, Mönchengladbach

Als der Bundestrainer Joachim Löw am Samstagabend vom Fußballer Matthias Ginter schwärmte, klang das wie in einem Autowerbespot. Löw sagte: "Er ist solide, seriös und zuverlässig." Nachdem Ginter beim 4:0 gegen Weißrussland die Abwehr zusammengehalten, ein Tor geschossen, ein weiteres vorbereitet und ein drittes durch kluge Körpersprache erst ermöglicht hatte, hätte man ihn auch richtig anhimmeln können. Man hätte den 25-Jährigen für sein erstes Länderspieltor ausgerechnet im Stadion seines Klubs Borussia Mönchengladbach überschwänglich bejubeln können, aber darauf hat der Schönauer Löw beim Freiburger Ginter lieber verzichtet. Badener bleiben unter sich gern bescheiden. Also sagte Löw über Ginter, der zum ersten Mal in seiner Karriere nach 207 Bundesliga-, 32 Europapokal-, 22 DFB-Pokal- und 28 Länderspielen an gleich drei Treffern beteiligt war: "Bei ihm weiß man, was man hat."

Kurios ist, dass dem Innenverteidiger ausgerechnet in einem Länderspiel unter Löw eine solch fantastische Quote gelungen ist. Ginter hatte vor dem Spiel nämlich noch darüber sinniert, dass der Fußball im Nationalteam so ganz anders sei als der Fußball, den man neuerdings in Gladbach unter dem Trainer Marco Rose spiele. "Wir spielen in Gladbach mittlerweile anders, wir gehen früh drauf, spielen hohes Risiko - da kann es schon mal ein, zwei Tage dauern, bis man wieder das DFB-Gen in sich hat", hatte Ginter gesagt. Das hatte geklungen, als müsse er sein Adrenalin im Nationaltrikot herunterregulieren, langsamer spielen, weiter hinten agieren. Aber dann kam gegen die - zugegeben harmlosen - Weißrussen alles anders. Ginter verbrachte die erste Halbzeit eigentlich durchgängig in der Nähe des gegnerischen Strafraums. "Es war gewollt, dass ich oft mit nach vorne gehe", erklärte er, "weil klar war, dass wir viel den Ball haben, weit in der gegnerischen Hälfte, und dann sollte man auch als Innenverteidiger nicht hinten an der Mittellinie parken, sondern sich offensiv einschalten."

Ginter hat also nicht an der Mittellinie geparkt, dabei wäre das Parken dort einfach und gratis gewesen, es war viel frei und weit und breit kein Parkscheinautomat zu sehen. Ginter hat aber lieber Gas gegeben, besonders in der 41. Minute, als er in den Strafraum stürmte, weil Serge Gnabry sich über rechts gerade durchsetzte und Ginter eine Hereingabe erwartete. Ginter war dann allerdings ein bisschen zu schnell, der Ball kam zwar herein, er rollte aber in Ginters Rücken, und da musste der Gladbacher mit dem rechten Fuß hinter dem linken Standbein schießen. Es war ein Hackentrick par excellence. Bloß solide, seriös und zuverlässig? Von wegen! Ginter wusste nicht mal selbst, dass er zu solchen Zaubertricks fähig ist. In seinem 29. Länderspiel aber hat er sein Repertoire erweitert, er ist jetzt nicht mehr nur zuverlässig, er trägt ab sofort also auch ein bisschen Genialität in sich.

Ginter ist mit Manuel Neuer und Toni Kroos einer von nur noch drei Spielern im Kader, die schon beim Gewinn der Weltmeisterschaft 2014 zum Kader gehört haben. Allerdings hat Ginter anders als Neuer und Kroos in Brasilien keine einzige Minute gespielt. Für die Europameisterschaft 2016 wurde er nicht nominiert und bei der WM 2018, zu der er wieder berufen wurde, hat er wiederum keine einzige Minute gespielt. Löw mag Ginters Zuverlässigkeit ja schätzen, aber bei den wirklich relevanten Spielen hat er ihm bislang noch nie das Vertrauen geschenkt.

Das dürfte bei der EM im nächsten Jahr anders werden. Mats Hummels und Jerôme Boateng sind ausgemustert, Niklas Süle kuriert unter Umständen seinen Kreuzbandriss nicht rechtzeitig aus, auch Antonio Rüdiger und Thilo Kehrer sind verletzt, und Jonathan Tah spielt bei Bayer Leverkusen momentan nicht gerade seine beste Halbserie. Danach wird es schon eng mit jungen deutschen Innenverteidigern.

"Es wird wichtig sein, Spieler mit Turnier-Erfahrung zu haben", sagt Löw über Ginter mit Blick auf die EM 2020. Ginter hat tatsächlich schon viel Turnier-Erfahrung. Unter Löw hat er bei zwei Welrtmeisterschaften sozusagen hospitiert und 2017 beim Gewinn des Confed-Cups vier von fünf Spielen bestritten. Er hat zwei U21-Europameisterschaften mitgemacht und stand in fünf von sechs Spielen auf dem Platz, als die Olympia-Auswahl 2016 Silber gewann. Macht sechs Turniere. "Matze Ginter ist schon länger dabei und eigentlich immer gut", sagt der Bundestrainer dann noch, "er kann das Spiel aus der Abwehr heraus eröffnen, hat sich defensiv verbessert, ist stabil geworden und verbreitet Ruhe." Löw sagt: "Der Matze wurde eigentlich immer ein bisschen unterschätzt." Vielleicht sogar von Jogi Löw selbst.

© SZ vom 18.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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