Mats Hummels:Die Frühwarnung fruchtet nicht

Mats Hummels: Mit dem Kopf voraus ins koreanische Abwehrzentrum: Verteidiger Mats Hummels bei einem seiner – glücklosen – Versuche, dem deutschen Sturm die Arbeit abzunehmen.

Mit dem Kopf voraus ins koreanische Abwehrzentrum: Verteidiger Mats Hummels bei einem seiner – glücklosen – Versuche, dem deutschen Sturm die Arbeit abzunehmen.

(Foto: Luis Acosta/AFP)

Trotz der Appelle von Hummels hat die deutsche Mannschaft bei der WM nie eine Balance zwischen defensiver Stabilität und offensiver Wucht gefunden.

Von Benedikt warmbrunn, Kasan

Nun, da alles vorbei ist, bleibt auch die Zeit für ein bisschen Fantasie. Angenommen, es hätte gegen Südkorea in der 87. Minute eine Flanke der Deutschen gegeben, beim Stand von null zu null, ein Tor hätte zum Weiterkommen gereicht. Angenommen also, es hätte diese Flanke gegeben, dann wäre sie selbstverständlich von Mesut Özil gekommen, so wie fast alle gefährlichen Zuspiele in dieser Partie. Angenommen, im Strafraum hätte dann Mats Hummels gewartet, mit all seiner Autorität, der Ball wäre präzise auf ihn zugeflogen. Angenommen, Hummels hätte den Kopfball zum wichtigen Einsnull gemacht. Mit ein bisschen Fantasie hätte Deutschland nun ein Achtelfinale vor sich, am Montag, in Samara, gegen Brasilien.

Es braucht, ehrlich gesagt, nicht sonderlich viel Fantasie für diese Szene, sie hat sich tatsächlich fast exakt so abgespielt: Es gab sie ja wirklich in der 87. Minute, diese Flanke von Özil (der nicht nur in der Fantasie die meisten gefährlichen Zuspiele lieferte), auf den im Strafraum allein gelassenen Hummels mit all seiner Autorität. Nur das mit dem Kopfball, dieses Detail muss dann doch die Fantasie heraufbeschwören, genauso wie die Folgen. Hummels traf den Ball in der realen, fantasielosen Welt mit der Schulter, der Ball flog am Tor vorbei.

"Leer" sei er, hat Hummels nach dem deutschen Ausscheiden gegen Südkorea gesagt, "ich krieg's nicht so gegriffen für mich, die Gedanken, die jetzt alle da sind."

Den einen oder anderen Gedanken griff er sich dann doch noch. Zum Beispiel den, dass die Mannschaft "irgendwie nicht in diesen Spielrhythmus reingekommen ist, den wir bis Mitte oder Ende letzten Jahres hatten". Oder den Gedanken, dass "viele Dinge nicht zusammengepasst" hätten. Und er griff sich auch noch den Gedanken, dass das alles "unfassbar enttäuschend für uns und von uns" sei. Den Gedanken, dass er doch früh genug gewarnt habe, dass sie doch alle nur auf ihn hätten hören müssen, den griff er sich dagegen nicht.

Vielleicht behielt Hummels diesen sehr richtigen Gedanken aber auch nur besser für sich selbst.

Mats Hummels hat in der realen Welt diese monumentale Kopfballchance gegen Korea tatsächlich vergeben. Ihm ist aber das Kunststück gelungen, sich dennoch zu den Spielern zählen zu dürfen, die noch eine vergleichsweise geringe Last der grenzenlosen Schuld tragen müssen. Unter anderem, weil er ja wirklich früh genug gewarnt hatte, weil doch alle nur auf ihn hätten hören müssen.

Hummels, 29, hat sich in den vergangenen Jahren als der deutsche Spieler positioniert, der inhaltlich und sprachlich konkurrenzlos ist, viele seiner Analysen kommen daher wie einer dieser eleganten Außenristpässe, die er so gerne schlägt. Manche dieser Sätze wurden allerdings irgendwann wegen ihrer hübschen Optik als Schönlingssätze eingeordnet, auch bei der WM bekam Hummels das wieder zu spüren.

Nach der Auftaktniederlage gegen Mexiko hatte er betont sachlich darauf hingewiesen, dass die Deutschen es den Mexikaner "zu leicht gemacht" hätten. Und er sagte: "Wenn sieben oder acht Spieler offensiv spielen, dann ist klar, dass die offensive Wucht größer ist als die defensive Stabilität. Das ist das, was ich intern oft anspreche. Das fruchtet anscheinend noch nicht so ganz." Mancher Beobachter hat daraus eine betont unsachliche Debatte gemacht, was sich der schöne Herr Hummels mit seinen schönen Sätzen wohl denke, Vorwürfe dieser Art eben.

Hummels hat sich darüber geärgert, ihn hat gestört, dass scheinbar nur die Kritiker kritisieren dürfen, aber eigentlich war diese Analyse ja auch nicht für die Kritiker gedacht. Sondern für die Mannschaft und deren unmittelbares Umfeld und somit übrigens auch für den Bundestrainer.

Gefruchtet hatte diese Kritik jedoch bis zum letzten Vorrundenspiel nicht.

Deutschland hat es Südkorea zwar nicht zu leicht gemacht, die offensive Wucht war auch nicht größer als die defensive Stabilität. Aber es war auch nicht so, dass Wucht und Stabilität sich gegenseitig ausbalanciert hätten. Der Spieler, der sich dieser beiden Kriterien hauptsächlich annahm, war selbstverständlich der Chefkritiker höchstpersönlich.

Ohne den gesperrten Jérôme Boateng sortierte Hummels die Defensive, die er sehr lange stabil hielt; das Problem im deutschen Spiel war ja zunächst in erster Linie die biedere Offensive. Die Defensive wurde erst in der zweiten Halbzeit gefordert, für Hummels vermutlich nicht überraschend - die Südkoreaner erspielten sich erst Chancen, nachdem für den defensiven Sami Khedira (Stabilität!) der offensive Mario Gomez (Wucht!) eingewechselt worden war, in der 58. Minute. Acht Minuten später schritt Mats Hummels in das südkoreanische Gewusel im Strafraum mit einer Autorität ein, wie sie sonst nur dem Vertrauenslehrer bei einer Schulhofrangelei zusteht.

Als die Möglichkeit eines Scheiterns immer weniger ein fantasievolles Schreckensszenario wurde, opferte Hummels selbst die defensive Stabilität, um offensive Wucht zu erzeugen. Fünf Torschüsse hatte er nach insgesamt 102 Spielminuten, darunter dieser Schulterball - kein Deutscher brachte es auf mehr Abschlüsse; Toni Kroos kam ebenfalls auf fünf Versuche.

"Heute kann ich nicht sagen, dies oder das war falsch", sagte Hummels später, "wir haben nicht gut oder berauschend gespielt, aber wir hatten genug Möglichkeiten für ein Tor. Die haben wir nicht genutzt, und so kam alles zusammen - mit einem unglücklichen Gegentor in der 90. Minute." Nach dem Spiel gegen Mexiko habe er ja "relativ klar" gesagt, was falsch gewesen sei, diesen Hinweis erlaubte Hummels sich dann schon auch noch; er setzte ihn allerdings bewusst nicht in einen Zusammenhang mit dem Geschehen auf dem Rasen von Kasan.

Vielleicht hört ihm jetzt aber dennoch jemand zu.

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