Fußball-WM:In Marokkos Triumph steckt eine Botschaft

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Anders als die Regenbogenfahne ist die Palästina-Flagge bei der WM in Katar sehr präsent. Nach dem Spiel gegen Spanien feiern die Marokkaner mit ihr den Sieg. (Foto: Martin Meissner/AP)

Mit dem Sieg im Elferschießen über Spanien steht Marokko als einziges afrikanisches und arabisches Team im Viertelfinale. Die Spieler, Trainer Regragui und die Fans prägen die Stimmung in Katar wie niemand sonst - inklusive politischer Statements.

Von Sebastian Fischer, al-Rayyan

Während Walid Regragui auf den Rasen rannte, zu den feiernden Nationalspielern Marokkos, in einem Stadion voller feiernder, trommelnder und schreiender marokkanischer Fans, klopfte er sich mit den flachen Händen auf den kahlen Kopf. Es sah aus, als müsste er ein bisschen nachhelfen, um zu verstehen, was gerade geschehen war. Aber er bekam dabei Unterstützung.

Zunächst waren es die Spieler, die ihn gemeinsam in die Luft warfen, in Richtung des Abendhimmels über al-Rayyan. Dann war es Marokkos König Mohammed VI., der den Trainer anrief, um seinen Stolz auf die Mannschaft auszudrücken, Regragui berichtete davon in der Pressekonferenz. Schließlich war es ein marokkanischer Journalist, der ihn anstatt eine Frage zu stellen lieber beglückwünschte und mit Tränen in den Augen erklärte: "Ich will nur Danke sagen."

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Regragui wurde schließlich auch befragt zu diesem 3:0 im Elfmeterschießen gegen Spanien, durch das Marokko als erst vierte afrikanische Mannschaft der Fußballgeschichte in ein WM-Viertelfinale einzog. Der Trainer sagte, unter anderem: "Marokko hat die Unterstützung vieler Menschen im Rücken, um Historisches zu schaffen."

Dass die Mannschaft Marokkos eine der wichtigsten für die erste WM in einem arabischsprachigen Land werden könnte, das hatte sich schon in den ersten Wochen des Turniers angedeutet. Etwa 15 000 Marokkaner leben in Katar, viele Tausend mehr sind angereist. Seit die Marokkaner nach Siegen gegen Belgien und Kanada die Gruppenphase überstanden haben, als einzige arabische Mannschaft, ist die Zahl ihrer Fans noch größer geworden. Auch Tunesier, zum Beispiel, gehören nun dazu.

Aus der Partie im Education-City-Stadion machten die marokkanischen Fans ein Heimspiel, wie es diese WM vorher noch nicht erlebt hatte. Bei jedem spanischen Ballkontakt vibrierten die gellenden Pfiffe in den Ohren. Der Sieg, sagte Trainer Regragui, wäre ohne sie unmöglich gewesen.

Marokko prägt die WM nicht nur sportlich, sondern auch politisch

Es sind nicht nur sportliche Geschichten, die Marokko zu jener Mannschaft machen, zu der nun wohl die ganze arabische Welt hält. Der Verband hat zum Beispiel die Familien der Spieler nach Doha eingeladen, schon nach dem Achtelfinaleinzug umarmte Achraf Hakimi seine Mutter auf der Tribüne. Auch die Mutter von Trainer Regragui ist da. Zum ersten Mal in ihrem Leben sei sie für Fußballspiele ihres Sohnes gereist, sagte sie dem marokkanischen Fernsehsender Arriyadia.

Überhaupt Regragui: Der Trainer, 47, erst seit wenigen Monaten Marokkos Nationalcoach, weil sich sein Vorgänger Vahid Halihodzic mit dem wichtigsten Spieler Hakim Ziyech zerstritt, wird in der Heimat bereits als Begründer einer neuen Fußballära gefeiert. Er ist nun der erste afrikanische Trainer der WM-Geschichte, der ein Viertelfinale erreicht. Es gehe um Kompetenz, nicht um Herkunft, sagte er dazu.

Wie sehr die Marokkaner diese WM prägen, das ist auch an den Symbolen erkennbar. Lange war es die Regenbogenfahne, über die in Katar gesprochen wurde. Aus europäischer Sicht war Protest an den Verhältnissen im Emirat schließlich das dominante Thema des Turniers. Nach dem Erfolg gegen Spanien feierten die Marokkaner mit der Flagge Palästinas, sie trugen sie auf der Ehrenrunde und hielten sie auf den Mannschaftsfotos hoch. Seit Wochen ist die Fahne in vielen Stadien in Katar präsent, als Armbinde oder Flagge im Publikum, auch die Marokkaner trugen sie schon mal. Anders als bei der berühmten "One Love"-Binde ist dabei bislang nichts von Einwänden des Weltverbands Fifa bekannt. Und auch wenn es niemand so sagt, ist die Botschaft der arabischen Welt klar: Politischen Protest, das können wir genauso. Dann eben mit unseren Anliegen.

Passend zu diesem Turnier, bei dem so vieles politisch ist, spielte Marokko in der Partie gegen Spanien nicht nur gegen einen fußballerisch höherklassigen Gegner - sondern zugleich gegen die einstige Kolonialmacht. Gerade die Protagonisten des Abends haben eine besondere Beziehung zu Spanien: Torwart Yassine Bounou, der kein spanisches Elfmetertor zuließ und die Versuche von Carlos Soler und Sergio Busquets grandios parierte, verbrachte seine bisherige Karriere als Profi fast ausschließlich in Spanien. Derzeit steht er beim FC Sevilla unter Vertrag. Bono, so wird er genannt, er war natürlich der Mann des Abends.

Und Hakimi, der Außenverteidiger von Paris Saint-Germain, der in Doha auf zahlreichen Werbeplakaten zu sehen ist, wurde in Madrid geboren. Er chippte den entscheidenden Elfmeter mit einer unverschämten Lässigkeit in die Mitte, danach tanzte er wie ein Pinguin.

Watschelt ins Viertelfinale: der Außenverteidiger Achraf Hakimi. (Foto: Ricardo Mazalan/AP)

Die 120 Minuten zuvor waren eine Abwehrschlacht, 77 Prozent Ballbesitz hatte Spanien, von 1019 Pässen kamen 926 an, doch die Marokkaner ließen dabei kaum gefährliche Torchancen zu. Sofyan Amrabat, ein 26 Jahre alter defensiver Mittelfeldspieler von kompakter Statur, der beim AC Florenz unter Vertrag steht, machte das Spiel seines Lebens. Marokko verteidigte mit zwei Viererketten, dazwischen verschloss Amrabat den Spaniern das Zentrum vor der Abwehr, bekam eines seiner Beine in nahezu jeden Pass und jedes Dribbling in seiner Nähe.

Sobald es nach vorne ging, stellte sich Sofiane Boufal der Weltöffentlichkeit vor, ein 29-jähriger graziler und schnelle Haken schlagender Linksaußen vom französischen Erstligisten SCO Angers. Und auch ein ehemaliger deutscher U21-Nationalspieler nahm einen prominenten Platz ein: Abdelhamid Sabiri, 26, früher beim 1. FC Nürnberg und dem SC Paderborn, inzwischen bei Sampdoria Genua, verwandelte den ersten Elfmeter. "Ich habe gefragt, ob jemand als Erster schießen will. Keiner hat geantwortet - dann habe ich gesagt, ich gehe voran", berichtete er später.

Marokko könnte die beste afrikanische WM-Mannschaft der Geschichte werden

Amrabat, Boufal und Sabiri, die jeweils in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland aufwuchsen, stehen für eine Besonderheit der marokkanischen Mannschaft: ihre Vielfalt. 14 Spieler sind in einem anderen Land geboren als Marokko, so viele wie bei keinem anderen Team der WM.

Trainer Regragui, selbst in Frankreich geboren und aufgewachsen, musste sich dafür in Marokko zunächst vereinzelt Vorwürfe anhören, die Mannschaft sei nicht marokkanisch genug. Am Dienstag sagte er: "Jedes Land hat seine Fußballkultur, daraus machst du einen Milchshake und ziehst ins Viertelfinale ein. Damit bin ich sehr glücklich." Sabiri, der zwar in Marokko geboren wurde, aber in Deutschland aufwuchs und erst seit diesem Jahr Nationalspieler ist, sagte: "Unser Inneres ist marokkanisch, das haben wir alle gemeinsam. Es steht sich auch keiner im Weg, jeder spricht mindestens drei Sprachen, jeder kann sich mit jedem verständigen."

Und trotzdem ging es auch ihm um mehr. "Für ganz Afrika, für die arabischen Länder, für alle Muslime auf der Welt" hätten sie gespielt. "Wir wollten sie glücklich machen", sagte Sabiri. Wie sich das anfühlt, das wusste er aus eigener Erfahrung zu berichten. 2010, als 13-Jähriger, sei er für Ghana gewesen: "So als wäre es mein Land, weil es ein afrikanisches Land ist."

Ghana verlor damals im Viertelfinale im Elfmeterschießen gegen Uruguay. Marokko hat nun gegen Portugal die Chance, zur besten afrikanischen Mannschaft der WM-Geschichte zu werden. Fest steht: Es wird wieder ein Heimspiel.

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