Marokko bei der WM:Ein arabischer Traum

Marokko bei der WM: Euphorie und Demut: Marokkos Team nach dem Überraschungssieg gegen Belgien.

Euphorie und Demut: Marokkos Team nach dem Überraschungssieg gegen Belgien.

(Foto: Bruno Fahy/Imago)

Mit Verbissenheit und großem Temperament setzt Marokko dem gealterten Team Belgiens zu - und stößt mit einem 2:0-Sieg die Tür zum Achtelfinale weit auf.

Von Sven Haist, Doha

Der Jubel der Marokkaner kannte keine Grenzen. Nach dem 2:0 über Belgien lagen sich die marokkanischen Spieler und Fans überall in den Armen. So weit das Auge reichte, spielten sich Szenen der Freude ab. Einen so stolzen Moment dürfte Marokko im Fußball zuletzt vor 36 Jahren erlebt haben, als das Land bei der WM 1986 erstmals das Achtelfinale erreichte und dort nur knapp an Deutschland scheiterte. Den Überraschungserfolg besiegelte der beim FC Toulouse angestellte Zakaria Aboukhlal in der zweiten Minute der Nachspielzeit.

Der Führungstreffer zum 1:0 zuvor war fast einer Duplizität der Ereignisse gefolgt, nur dass in der 73. Spielminute der vorher eingewechselte Abdelhamid Sabiri den Ball per Freistoß von der linken Außenbahn mit dem rechten Fuß auf das Tor schleuderte und nicht wie Ziyech mit links von der rechten Seite. Jeweils behinderte Kapitän Romain Saïss das Sichtfeld des belgischen Torwarts Thibaut Courtois, im zweiten Anlauf jedoch regelkonform. Für Offensivspieler Sabiri, dem einst der Durchbruch in Deutschland gelang, wo er für den 1. FC Nürnberg und den SC Paderborn agierte, war es der Treffer seines Lebens - mit dem er das Tor für Marokko zum Achtelfinale aufstieß. Im abschließenden Vorrundenduell mit Kanada reicht dem Land jetzt ein Remis zum Weiterkommen. Von dieser Konstellation träumten die arabischen Nationen vor dieser erstmals in einem arabischen Land ausgetragenen Fußball-WM - nun scheint der arabische Traum tatsächlich wahr zu werden.

Dieser Teil der Welt verbindet mit dem Turnier in Katar unter anderem die Hoffnung, dass es einen Fußballboom in den eigenen Ländern auslöst und die Wettbewerbsfähigkeit erhöht im Vergleich zur übermächtig erscheinenden Konkurrenz aus Europa und Südamerika. Sportlich hat sich die Zahl arabischer Nationen, die sich für ein Weltturnier qualifizieren konnten, zuletzt sukzessive erhöht. Wie schon bei der WM 2018 sind in Gastgeber Katar, Saudi-Arabien, Tunesien und Marokko vier Länder dabei - anders als noch 2014 und 2010, als lediglich Algerien teilnahm. Bereits in den Auftaktspielen gelang es den Arabern, jeweils abgesehen von Katar, mindestens einen Punkt zu holen. Saudi-Arabien schlug dabei sogar Argentinien, nun Marokko Belgien.

14 Akteure im 26er-Aufgebot kamen in einem anderen Land zur Welt

Auch in punkto Begeisterung hätte das Turnier für die Teams aus dem arabischen Sprachraum bislang kaum erfolgreicher verlaufen können. Die Atmosphäre in den Stadien gleicht für sie durchgehend einem Heimspiel - so viele Landsleute haben jeweils die Reise an den Persischen Golf angetreten. Am deutlichsten zeigte sich das im Spiel der Marokkaner gegen Belgien. Das Al-Thumama-Stadion am Rande Dohas war abgesehen von einem kleinen belgischen Fanblock in marokkanischer Hand. Jeder Ballkontakt des WM-Dritten von 2018 wurde mit ohrenbetäubenden Pfiffen bedacht, während die eigene Mannschaft euphorisch nach vorn getrieben wurde. Mitunter dank der akustischen Unterstützung schafften es die Atlaslöwen trotz ihrer individuellen Unterlegenheit, die Partie zunächst offen zu gestalten und dann zunehmend sogar zu dominieren. Sie verwickelten die in die Jahre gekommene belgische Mannschaft in kraftaufreibende Zweikämpfe, die sie höchst intensiv, bisweilen verbissen führten. Der Plan der Marokkaner ging auf: Immer wieder entsprangen aus Ballgewinnen im Mittelfeld gefährliche Konter.

Der starke marokkanische Auftritt reihte sich ein in die guten Leistungen der anderen arabischen Länder. Der Fortschritt fußt dabei insbesondere auf zwei Ansätzen: Die Golfstaaten Katar und Saudi-Arabien investierten umfangreich in die Infrastruktur und kauften sich die Expertise über ausländische Trainer ein. Die arabisch sprechenden Länder in Nordafrika wiederum, vor allem Marokko, akquirieren immer mehr Spieler mit multinationalem Hintergrund. Bei dieser WM tragen insgesamt 137 Profis das Trikot eines Landes, in dem sie nicht geboren sind. Dies entspricht beachtlichen 16 Prozent.

Die Liste führt Marokko deutlich vor Tunesien an: mit 14 Akteuren im 26-köpfigen Kader, die im Ausland zur Welt gekommen sind. Dazu zählen der in den Niederlanden geborene Ziyech und der aus Spanien stammende Achraf Hakimi - die renommiertesten Spieler in den eigenen Reihen. Vier weitere Profis sind in Belgien aufgewachsen, einer großen marokkanischen Diaspora. Entsprechend emotional aufgeladen war die Begegnung, bei der die Marokkaner von ihrem bemerkenswerten Temperament profitierten - dem sie nach den Toren endgültig freien Lauf ließen.

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