Markus Rehm bei den Paralympics:Sich nicht zu freuen, ist auch keine Lösung

Markus Rehm bei den Paralympics: Weiter als irgendwer sonst - aber nicht so weit wie erhofft: Markus Rehm im feuchten Tokio.

Weiter als irgendwer sonst - aber nicht so weit wie erhofft: Markus Rehm im feuchten Tokio.

(Foto: Eugene Hoshiko/AP)

Markus Rehm, Deutschlands bekanntester Paralympics-Athlet, sichert sich in Tokio wie erwartet seine dritte Goldmedaille im Prothesen-Weitsprung. Der 33-Jährige scheitert aber an seinem eigentlichen Ziel: etwas ganz Besonderes zu schaffen.

Von Thomas Hahn, Tokio

Irgendwann versicherte Markus Rehm seinen Zuhörern: "Ich freue mich wirklich." Und das musste er tatsächlich dazusagen, denn nach seinem Goldgewinn im Prothesenweitsprung bei den Paralympics in Tokio hatte er vor allem davon gesprochen, was ihm nicht gelungen war. 8,18 Meter betrug seine Siegerweite im Nationalstadion, "nicht so schlecht", gab Rehm zu, "aber mein Ziel war eine etwas größere Weite."

8,41 Meter hätte er zum Beispiel gerne geschafft wie der Grieche Miltiadis Tentoglou bei seinem Olympiasieg vor einem Monat an gleicher Stelle oder zumindest 8,21 Meter wie der Olympia-Dritte Maykel Masso aus Kuba. Ging nicht. "Ich muss das analysieren." Denn Markus Rehm, 33, aus Leverkusen, der bekannteste Paralympics-Athlet Deutschlands und seit Mittwoch nun dreimaliger Paralympicssieger im Weitsprung, hatte eigentlich gedacht, etwas Besonderes schaffen zu können an diesem besonderen Ort.

Tokios Nationalstadion ist nicht irgendeine Sportstätte. Hier, zwischen den Tribünen von Kasumigaoka im Bezirk Shinjuku, hat sich vor 30 Jahren der beste Weitsprung-Wettkampf der Leichtathletik ereignet. Damals stand noch das alte Nationalstadion, ein weitläufiges Gebäude, das nur über der Haupttribüne ein Dach hatte. Es war ein schwüler Tag mit wechselndem Wind. Der US-Olympiasieger Carl Lewis sprang vier Mal über 8,80 Meter, einmal sogar bei zu viel Rückenwind 8,91, also einen Zentimeter weiter als der Weltrekord, den Bob Beamon bei Olympia 1968 in der Höhenluft von Mexiko City aufgestellt hatte. Trotzdem gewann Lewis nicht, weil seinem Landsmann Mike Powell im fünften Versuch bei regulärem Wind 8,95 Meter gelangen. Das Dopingtestsystem war Anfang der Neunziger noch nicht sehr weit entwickelt, trotzdem: Das Duell von Tokio ist unvergessen. Powells Weltrekord steht noch immer.

Der Kampf vor den Sportgerichts-Instanzen habe "sehr viele Körner gekostet"

Markus Rehm hat daran gedacht vor dem Wettkampf. "Ich habe mir das Video angeschaut", sagte er, "zweimal sogar." Und als er im Stadion war, hatte er ein gutes Gefühl. Er spürte, wie schnell die Bahn war. "Beim Einspringen dachte ich, heute passiert was."

Er hat zuvor nie davon gesprochen, Powells Marke angreifen zu wollen. Das wäre wohl auch ein bisschen vermessen gewesen. Seit seinem ersten Paralympicssieg 2012 mit 7,35 Metern hat sich Rehm zwar deutlich verbessert. In Rio vier Jahre später gewann er mit 8,21 Meter, schon 2015 hatte er seinen Weltrekord für Prothesenspringer auf 8,40 gehoben, 2018 schaffte er 8,48. Sein neuester Weltrekord, erzielt Anfang Juni bei der Para-Leichtathletik-EM in Bydgoszcz, Polen, betrug beachtliche 8,62 Meter - acht Zentimeter mehr als der 41 Jahre alte deutsche Rekord des Zwickauer Olympiasiegers Lutz Dombrowski.

Aber bis zu 8,95 ist es eben doch noch ein Stück. Und Markus Rehm hatte in diesem Jahr ja auch wieder an anderer Front gekämpft. Er wollte zu Olympia, nachdem der Deutsche Leichtathletik-Verband ihm die Nominierung gewährt hatte. Er musste wegstecken, dass der Internationale Sportgerichtshof Cas ihm ohne Begründung die Teilnahme verweigerte. "Sehr, sehr schade", findet er immer noch. Und anstrengend. "Das hat sehr viele Körner gekostet."

Andererseits: Warum nicht ein kühnes Ziel anpeilen? Markus Rehm springt in der paralympischen Welt ohnehin nur noch gegen sich selbst. Kein anderer Prothesenspringer kann, was er kann. Und auch in Tokio war es nicht spannend. Gleich sein erster Sprung ging 8,06 Meter weit. "Da wusste ich schon, das wird schwer für die anderen." Sich zu steigern, ist Rehms wichtigster sportlicher Ansporn. Tokio erschien der richtige Ort für eine spezielle Leistung. Wegen der Vorgeschichte. Und weil es hier schon bei Olympia einen Weltrekord in der Sandgrube gegeben hatte. Die Dreispringerin Yulimar Rojas aus Venezuela korrigierte die Bestmarke der Ukrainerin Inessa Krawez von 1995 auf 15,67 Meter. Die schnelle Bahn motivierte Rehm.

Die Voraussetzungen für einen Weltrekord waren schlechter als vor 30 Jahren beim Duell zwischen Lewis und Powell

Das Nationalstadion von 1991 steht nicht mehr. 2015 wurde es abgerissen und für die Spiele 2020 neu aufgebaut. Jetzt ist es eine moderne Arena mit steilen Rängen, rundum überdacht, mit Holzverkleidung und Pflanzen drumherum. Ein schöner, eleganter Sportpalast. Aber die Voraussetzungen für einen Weltrekord waren schlechter als vor 30 Jahren. Es hatte geregnet, die Schwüle war weg, es war kühl. Und anders als 1991, als die Ränge voll waren, hallten die Durchsagen wegen der Pandemie durch ein leeres weites Rund.

Aber Markus Rehm findet, dass man nicht zu viel über äußere Einflüsse nachdenken soll. Er sprang einfach. 8,09 im dritten Versuch. Allmählich dämmerte ihm, dass er die schnelle Bahn nicht richtig in den Griff bekam. Seine Prothese schien darauf nicht gut zu funktionieren: "Vielleicht war sie zu weich." Er konnte es nicht ändern und sprang. Die 8,18 Meter kamen im fünften Versuch. Der Franzose Dimitri Pavade blieb auf seinem zweiten Platz mit 7,39 Meter. Als Markus Rehm zum letzten Mal anlief, regnete es. Übergetreten.

Er hatte gewonnen. Anschließend warteten die Reporter. Vor allem die japanischen wollten viel von ihm wissen, denn Markus Rehm ist groß in Japan. Sich nicht zu freuen, ging nicht, und trotzdem schien ihn sein Sieg zu beschäftigen. "Keine Ausreden", sagte er. Er fand, er hätte weiter springen können an dem Ort, an dem Mike Powell einst Geschichte schrieb.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: