Mario Götze beim FC Bayern:Hinter dicken Mauern

Mario Götze beim FC Bayern: Umstritten: Mario Götze

Umstritten: Mario Götze

(Foto: imago sportfotodienst)

Seit seinem Wechsel zum FC Bayern gilt Mario Götze als unnahbar und überheblich. Selbst nach seinem Tor zum WM-Titel wird er in manchen Stadien vor dem Start in die neue Bundesliga-Saison ausgepfiffen. Was ist passiert?

Von Benedikt Warmbrunn

Als die Menschen mal wieder ausflippten wegen seines Sohnes, als sie hüpften und brüllten und sich einander in die Arme warfen, da atmete Jürgen Götze ein. Dann atmete er aus. Er hüpfte nicht, er brüllte nicht, er warf sich niemandem in den Arm. Er stand einfach nur auf der Tribüne des Stadions Maracanã in Rio de Janeiro, ballte die rechte Hand zur Faust. Atmete ein, atmete aus. Dann dachte er, wie gut das tat.

Knapp fünf Wochen später, drei Tage bevor Jürgen Götze in seine fünfte Saison als Bundesligafußballer-Vater geht, sitzt er in einem Café in der Münchner Innenstadt, in der Nähe der Wohnung seiner drei Söhne, alle Fußballer. Jürgen Götze tritt ungern als Fußballervater auf, eigentlich erst zweimal, das ist auch schon wieder drei Jahre her. Doch es ist viel passiert in diesen drei Jahren. Und nicht alles hat gut getan.

Jürgen Götze sagt, dass er nicht zitiert werden möchte, aber er gibt dennoch tiefe Einblicke in das Leben seines Sohnes. Götze erzählt eine Geschichte, die für das gespaltene Verhältnis der deutschen Fußballfans zu ihren Helden steht.

Die Geschichte eines Fußballers, der zu einem anderen Verein gewechselt ist. Die Geschichte eines jungen Mannes, der ein Jahr später an einem Abend in Rio de Janeiro mit zwei Ballberührungen eine ganze Fußballnation zum Jubeln bringt. Die Geschichte eines jungen Mannes, der nur wenige Wochen später von einem ganzen Stadion ausgepfiffen wird, bevor er nur einmal den Ball berührt hat, der also selbst nach dem wichtigsten Tor eines Fußballerlebens um Anerkennung kämpft. Es ist die Geschichte seines zweiten Sohnes: Mario, 22 Jahre alt.

Jürgen Götze, 54, kahler Kopf, randlose Brille, ist ein guter Erzähler dieser Geschichte. Er erzählt sie wie der Wissenschaftler, der er ist, Professor für Datentechnik an der TU Dortmund, zu seinen Forschungsthemen zählen adaptive Filter, parallele Algorithmen oder die numerische lineare Algebra. Nicht zu seinen Forschungsgebieten zählen: Emotionen.

Die Geschichte, wie Jürgen Götze sie erzählt, gibt eine neue Sicht auf die Person Mario Götze, er verzichtet ganz auf Emotionen. Dabei geht es in der Geschichte von Mario Götze im Sommer 2014 genau darum: Emotionen.

Mario Götze hat im Finale gegen Argentinien das entscheidende Tor bei der WM in Brasilien geschossen, sieben Minuten vor dem Ende, Flanke von André Schürrle, Annahme mit der Brust, Drehschuss mit links, Tor, Deutschland war Weltmeister.

Es war der Schlusspunkt von eineinhalb Jahren, in denen sich die emotionale Mario-Götze-Betrachtung radikal gedreht hatte. Vom größten Talent des deutschen Fußballs zu einem der verschwenderischsten Talente. Vom Dortmunder Jung zum Münchner Millionario. Vom Posterboy zum Bad Boy. Jürgen Götze sitzt an seinem Tisch, er versucht diese Wandlung zu erklären, beginnt Sätze, ohne sie zu beenden, beendet Sätze, die er nie begonnen hatte.

Vor dem Haus steht der Sicherheitsdienst

Die Geschichte seines Sohnes, wie Jürgen Götze sie erzählt, beginnt Mitte des vergangenen Jahrzehnts. Mario, zehn Jahre alt, spielt in der Jugend von Borussia Dortmund, er hat Spaß, er ist gut. Also schaut sich sein Vater die älteren Jahrgänge an, beobachtet, wie viele Spieler den Sprung eine Stufe höher schaffen, er stellt Wahrscheinlichkeiten auf. Die Wahrscheinlichkeit, auch in den nächsten Jahrgang aufgenommen zu werden: größer als 50 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit, es von der D- bis in die B-Jugend zu schaffen: nicht einmal ein Fünftel. Mario Götze schafft es durch alle Jahrgänge, er debütiert mit 17 Jahren, fünf Monaten und 18 Tagen in der Bundesliga, er bricht die Schule vor dem Fachabitur ab, debütiert mit 18 Jahren, fünf Monaten und sieben Tagen in der Nationalmannschaft.

Doch Jürgen Götze hatte nie vergessen, dass es eine Karriere entgegen der Wahrscheinlichkeiten war. Auch nicht, als er mit seinem Sohn im Frühjahr 2013 diskutierte. Es ging, unemotional gesehen, um einen Arbeitsplatzwechsel.

Im Januar 2013 hatte Mario Götze im Trainingslager gesagt, dass er sich vorstellen könne, seine Karriere bei Borussia Dortmund zu beenden. Im Februar mietete er ein Penthouse, 500 Meter vom Haus seiner Eltern entfernt. Außerdem kaufte die Familie ein Grundstück in Dortmund, auf dem sie zwei Häuser bauen wollte, eines für Mario, eines für die Familie. Im März war das Penthouse möbliert. Ein paar Telefonate später wurde der Wechsel von Mario Götze zum FC Bayern verkündet.

Rationale Entscheidung für Bayern

Vater und Sohn hatten darüber gesprochen, welche Emotionen dieser Wechsel auslösen könnte, Enttäuschung, Verbitterung, das schon. Aber Hass? Jürgen Götze schüttelt den Kopf. Sein Sohn wollte unter Pep Guardiola spielen, dem Trainer, der den FC Barcelona zu einer feinfüßigen Passmaschinerie geformt hatte, stundenlang schaute er sich Aufzeichnungen im Internet an. Und der Vater dachte an seine Aufenthalte in den USA, und er dachte an die Wahrscheinlichkeiten, gegen die sich sein Sohn durchgesetzt hatte. Dass dies bereits eine unwahrscheinliche Karriere war. Dass er sie auch selbst steuern müsse.

Es war eine rationale Entscheidung. Doch kaum war der Wechsel verkündet, ging es nicht mehr um Argumente. Sondern nur noch um Emotionen. Vor dem Haus stand ein Sicherheitsdienst, die Polizei eskortierte Mario Götze auf dem Weg zum Training. Die Familie dachte, die Aufregung würde sich legen, sobald der Sohn in München spielt.

Sie legte sich nicht. Mario Götze spielte weiter Fußball, manchmal ruhte er sich auf dem Spielfeld in Lücken aus, die kein Mitspieler fand; er schlüpfte aber auch weiter durch diese Lücken, von denen kein Gegenspieler wusste.

Aber das war nicht mehr allein das Thema. Thema waren auch: seine Strähnen, seine Freundin, sein Auftreten. Angefangen hatte es mit Götzes Präsentation in München, beim Adidas-Klub. Er war zuvor zum Umziehen in der Kabine, alleine mit einem Mitarbeiter seines Sponsors Nike. Der warf ihm ein Nike-T-Shirt zu, Mario Götze dachte nicht nach. Und schaute es sich erst anschließend genau an. Die Meinung in der Öffentlichkeit über Mario Götze war von nun an: unnahbar, arrogant, überheblich. Jürgen Götze, der stets darauf geachtet hat, dass sein Sohn die Aufregung um seine Person nicht zu nah an sich heran lässt, spricht dagegen von einer Mauer, ohne die es ein Spieler nicht aushalten könne.

Es geht um den Konflikt von Emotionen und Rationalität. Sagt Jürgen Götze. Es geht um einen grundsätzlichen Konflikt unserer Zeit. Sagt Matthias Sammer.

"Man darf ihn nicht erdrücken"

Der Sportvorstand des FC Bayern hat mitgewirkt am Wechsel von Mario Götze zum FC Bayern, er hatte Wirbel erwartet. Aber nicht in dieser Dimension. Sammer sagt: "Es geht nur um den nächsten Hype, der Mensch wird viel zu schnell bewertet, eigentlich nur noch im Übertriebenen. Stimmt irgendetwas an dem Bild nicht mehr, geht es in die andere Richtung. Wie der Mensch wirklich ist, gerät in den Hintergrund." Als Götze nicht mehr das unbekümmerte Talent war, sondern ein Spieler, der über Karrierechancen und Verdienste nachgedacht habe, so sieht das Sammer, drehte sich der Hype in die entgegengesetzte Richtung.

Sammer schwärmt weiter von Götze, er nennt ihn einen Straßenfußballer, "und auf der Straße spielt man mit Leichtigkeit, mit einer Schlitzohrigkeit". Sammer hat aber auch beobachtet, dass das Leichte dem Rasenfußballer Götze beim FC Bayern verloren ging. Weil er ihn als sensiblen Spieler kennen gelernt hat, als einen, "der in sich hineinhorcht". Und dabei habe er die Erwartung gespürt - laut Sammer die Erwartung "an ein Idealbild von einem Spieler, der alles mit Eleganz erledigt". Götze war in seinem ersten Jahr bei den Bayern zweimal verletzt, er hat für das Team in 45 Spielen 15 Tore erzielt, 13 vorbereitet. Er hat das Tor im WM-Finale erzielt. Sammer sagt: "Auch im vergangenen Jahr hat man gesehen, dass er geniale Momente hat - aber man darf ihn nicht erdrücken."

In den Wochen nach seinem Tor im WM-Finale war es erstaunlich ruhig um Mario Götze. Es gab Bilder von ihm im Urlaub mit seiner Freundin, auf einer Yacht, beim Schlammbaden. Dann spielte er erstmals wieder in Deutschland, im Supercup in Dortmund, er wärmte sich im Kabinengang auf, um nicht ausgepfiffen zu werden. Dann wurde er eingewechselt. Und ausgepfiffen, bei jeder Ballberührung.

Auch am vorigen Wochenende, beim Pokalspiel in Münster: Pfiffe. Pfiffe sind auch hinter den dicksten Mauern zu hören.

Ein wichtiger Baustein

Am Mittag nach dem Pokalspiel hat sich Mario Götze Zeit genommen, er grüßt, dann sagt er: "20 Minuten." 20 Minuten, um hinter die Mauer zu schauen. Wie also ist Mario Götze im Sommer 2014 drauf? Götze, Flip-Flops, kurze Hose, schwarz-weiß gemustertes T-Shirt ohne Markenzeichen, sagt: "Relativ entspannt".

Relativ, denn da sind: die Emotionen; der Druck, es allen recht machen zu müssen; die Erkenntnis, es nicht allen recht machen zu können. "Natürlich versucht man am Anfang noch, es allen recht zu machen und immer positiv wegzukommen. Mittlerweile bin ich einfach ich selbst." Und dennoch entspannt, denn da waren: ein gutes erstes Jahr in München; das Wissen, auch schwere Zeiten durchstehen zu können; das Tor im WM-Finale. "Für mich persönlich ist das ein tolles Gefühl. Weil ich ja zuvor auch immer ein bisschen das Gefühl hatte, dass ich mich beweisen muss."

An diesem Freitag (20.30 Uhr) beginnt mit dem Heimspiel gegen den VfL Wolfsburg in München Götzes fünfte Bundesligasaison - die erste als Finaltorschütze. Matthias Sammer sagt: "Mario wird ein sehr, sehr wichtiger Spieler für uns sein, ein ganz, ganz wichtiger Baustein, unser kreatives Element." Götze selbst verspürt weniger Druck, dennoch steht er weiter unter Beobachtung wie kaum ein anderer Bundesligaspieler. Weil es in seinem Fußballerleben von Beginn an darum ging, die Erwartungen der anderen zu erfüllen. Erst haben alle nach Beweisen gesucht, warum er das größte Talent sein könnte. Nun suchen viele nach Beweisen, warum er vom Weg des größten Talentes abgekommen sein könnte. Warum er sich immer mehr seinem Playstation-Ebenbild annähert, zumindest vor dem Spiel sieht er ja so aus: perfekt gestylte Frisur, feine Augenbrauen, kein Tropfen Schweiß.

Götze sagt: "Ich bin völlig von mir überzeugt. Ich weiß, dass manche Dinge eben Zeit brauchen." Dann sagt er, dass er gerne gehen würde, er redet jetzt seit 30 Minuten. Er war zuvor in der Sauna, schwitzt immer stark nach, hält es fast nur draußen aus. Also flipflopt Mario Götze zur Tür hinaus, die Haare zerwuschelt, mit seinem T-Shirt wedelt er sich frische Luft zu.

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