Süddeutsche Zeitung

Paralympischer Sport in Deutschland:"Habe das Gefühl, dass man ein wenig alleingelassen wird"

Mareike Miller, Kapitänin der Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft und Präsidiumsmitglied bei Athleten Deutschland, spricht über Probleme im Para-Sport und die mentale Bereitschaft von Athleten.

Interview von Johannes Knuth

SZ: Frau Miller, eine Studie der Deutschen Sporthochschule im Auftrag der Sporthilfe hat herausgefunden, dass fast ein Drittel der deutschen Spitzensportler bei den Olympischen und Paralympischen Spielen zuletzt nicht voll mental präsent waren. Sie sind Kapitänin der deutschen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft, haben in Tokio im Spiel um Platz drei gegen die USA verloren und danach gesagt, dass die Mannschaft mental nicht so richtig bereit wirkte. Wie passiert so etwas, vor einem so wichtigen Spiel?

Mareike Miller: Da spielen natürlich viele Faktoren hinein. Wir sind sehr gut in das Turnier gestartet, sind Gruppenerster geworden und haben auch ein sehr gutes Halbfinale gespielt, ehe wir die letzten sechs Minuten eingebrochen sind. Das ist dann vielleicht eine der härtesten Herausforderungen überhaupt: die Stimmung für das Spiel um Bronze zu entfachen, gleichzeitig zu wissen, dass man nicht so weit vom Finale weg war. Ich hatte schon das Gefühl, dass wir die Niederlage gut verarbeitet hatten, dass alle dieses letzte Spiel unbedingt gewinnen wollten. Aber es hat sich dann in den ersten Minuten gezeigt, dass wir doch sehr mit uns gekämpft haben, mit fatalen Fehlern in der Verteidigung, die wir sonst nie gemacht haben. Das kann ich nicht anders erklären als damit, dass wir mental nicht bereit waren.

Das klingt so, als war das größte Problem, dass Sie und ihre Mitspielerinnen vor der letzten Partie gar nicht so richtig bemerkt haben, dass es ein Problem geben könnte.

Vielleicht ist diese Stimmung, die ich eben schilderte, tatsächlich unterschwellig zustande gekommen.

Hätte es da zusätzliche Angebote gebraucht? Oder gab es diese, und sie wurden nicht genutzt?

Wir haben es im paralympischen Sport mit grundsätzlichen Problematiken zu tun. Eine Sache, die wir gerade sehr stark bearbeiten, ist das Leistungssport-Personal: in erster Linie, dass mehr hauptamtliche Trainer ausgebildet werden. Wir hatten im Rollstuhlbasketball lange Zeit nur einen hauptamtlichen Trainer, bei den Männern. Bei den Frauen gab es einen Honorartrainer, der nur für die Zeit der Lehrgänge und Turniere bezahlt wird. Das kann nicht alles begründen, aber die Förderung des Frauenbereichs ist so über die Jahre eher stückweise und nicht ganzheitlich passiert. Wir hatten zum Glück ergänzend immer sehr engagierte Athletinnen, die sich in vielen Bereichen eingebracht haben. In den letzten Jahren haben sich zum Beispiel in den Regionalligen durch Eigeninitiative von Athletinnen und Betreuern immer wieder Frauen-Mannschaften gebildet, in denen Spielerinnen Praxis sammeln konnten. Aber das ist natürlich eine zusätzliche Herausforderung, wenn man sich als Athlet seine Strukturen selbst schaffen muss. Vor allem, wenn Maßnahmen der Nationalmannschaft wegen der Corona-Pandemie ein Jahr komplett pausieren.

Sie haben sich ein Jahr lang überhaupt nicht gesehen?

Nein, und das ist natürlich ein sehr langer Zeitraum, den wir verpasst haben, als Mannschaft zusammenzuwachsen. Davon profitiert man ja auch in den kritischen Situationen eines Turniers. Gleichzeitig ist es schwierig zu sagen, ob ein hauptamtlicher Trainer, der in dieser Phase etwas mehr im Heimtraining präsent hätte sein können, oder ein zusätzlicher Athletik- oder Mentalcoach uns am Ende in diesem einen Spiel den entscheidenden Vorteil gebracht hätten. Aber es sind alles Faktoren auf dem Weg dorthin, die sehr wohl einen Unterschied machen.

Das war ja ein großer Kritikpunkt der Studie: Dass nur rund zwei Drittel der Athleten mit ihren Trainern zufrieden sind und es vor allem an individueller Trainingsplanung mangelt.

Bisher konnten wir froh sein, wenn unsere Honorartrainer sich nach den Lehrgängen in ihrer Freizeit engagieren und die Mannschaft weiterhin gut betreuen. In diesem Konstrukt hängt allerdings wirklich viel davon ab, wie viel jede Spielerin selbst investiert. Ich bin zum Beispiel, ein Jahr nachdem ich mit dem Rollstuhlbasketball angefangen habe, in die USA gegangen, habe am College studiert, um den Sport als Leistungssport betreiben zu können. Ich spiele seit 2014 fast durchgängig in der Bundesliga, nutze auch die Möglichkeiten bei den Frauen-Mannschaften in der Regionalliga. Und dann kommt noch die Herausforderung hinzu, dass es nach dem Studium kaum Möglichkeiten gab, Sport und Beruf gut zu vereinbaren.

An Angeboten, um die Athleten dabei zu unterstützen, mangelt es ja nicht.

Auf keinen Fall. Es gibt Mentorenprogramme, es gibt Partner der Sporthilfe, die Bewerbungen von Sportlern begrüßen und diese so für deren Fähigkeiten wahrnehmen möchten. Da die Bundeswehr bei uns nicht die gleichen Förderprograme wie im olympischen Sport auflegen kann, weil wir nicht im gleichen Maß an der Waffe dienen können, gibt es andere Förderstellen, in der Verwaltung beim Bundesinnenministerium etwa. Aber all diese Sachen hatten für mich immer einen Haken.

Zum Beispiel?

Zunächst einmal muss dort, wo man gute Trainingsbedingungen vorfinden kann, auch eine Bundesbehörde angesiedelt sein, die eine Arbeitsstelle anbietet. Die muss dann auch noch zum eigenen Lebenslauf passen. So muss man ständig entscheiden, was man jetzt wem unterordnet. Ich war mit 24 mit meinem Studium fertig, arbeite jetzt, mit 31, im Vertrieb bei News aktuell GmbH, einer Tochterfirma der Deutschen Presse-Agentur in Hamburg, habe normale Distanzen zwischen Wohnung, Training und Beruf. Aber diese sieben Jahre, in denen ich bislang Beruf und Sport kombiniert habe, haben immer auf Eigeninitiative gefußt. Dabei habe ich so ziemlich alle Förderprogramme ausprobiert und auch ein ziemlich intensives Mentoring bekommen.

Wo hat es dann gehakt?

Es werden einem zum Beispiel Unternehmen angeboten, die gerne Leistungssportler einstellen - aber erst nach der Karriere. Das ist für viele problematisch, weil sie sich über den Sport alleine nicht finanzieren können oder auch während des Sports eine berufliche Zukunft sicherstellen möchten. Da fehlt mir dann auch ein bisschen die Wertschätzung für die Fähigkeiten, die viele Sportler mitbringen. Wir haben in Deutschland leider sehr wenige Jobs, in denen Teilzeitlösungen neben dem Sport möglich sind, in denen man auch schon früh vorankommen kann und gefördert wird. Da muss man wahnsinnig viele Kompromisse eingehen - oder braucht schlicht Glück. Ich habe es in den vergangenen sieben Jahren geschafft, eine Tätigkeit auszuüben, die meine Vorgesetzten zufriedenstellt, aber das war nur möglich, weil ich mich eben hinter alles selbst geklemmt habe, mit teilweise unbezahltem Urlaub meinem Sport nachgehe - was ich mittlerweile zum Glück von der Förderung durch den Sport abfedern kann. Aber am Ende habe ich schon das Gefühl, dass man da ein wenig alleingelassen wird.

Wo müsste man ansetzen, um Stress von den Athleten zu nehmen?

Ich glaube, dass die Strukturen - und so sehen es ja auch die Athleten in der Studie - gar nicht so schlecht sind. Aber die Betreuung müsste viel besser und gezielter gestaltet werden. Ob das nun Trainer, Laufbahnberater oder Mentoren sind: Da müsste viel proaktiver kommuniziert werden, dass man noch viel umfassender und gezielter auf dem Weg der dualen Karriere begleitet wird.

Die fehlende gesellschaftliche Wertschätzung, auch von Medien und Politik, wurde als extremes Hindernis angegeben. Sehen Sie das ähnlich?

Auf jeden Fall. Man muss erst einmal einen Arbeitgeber finden, der so ein duales Modell unterstützt und auch akzeptiert, dass viele Athleten erst etwas später voll in den Beruf einsteigen können. Dass dem gerade noch nicht so ist, führt vielleicht auch dazu, dass viele tendenziell etwas früher aufhören mit ihren Karrieren. Dabei opfern sie enorm viel Zeit mit Freunden und Familie, um in der Weltklasse mithalten zu können. Wenn man dann statt Wertschätzung für die tollen Leistungen eben auch immer mal wieder den Spruch hört: "Du bist ja sowieso nie da" - dann führt das schon dazu, dass man öfter, früher, schneller darüber nachdenkt, wie lange man das Ganze noch machen möchte.

Die Strukturen haben sich weltweit in den vergangenen Jahren im Para-Sport massiv verbessert. Wie sehen Sie Deutschland im Vergleich aufgestellt?

Ich glaube, dass durch die vorhandenen Strukturen viel Know-how und eine gute Basis vorhanden ist, mit dem man das Ganze ausbauen kann. Ich sehe aber auch ganz klar, dass die derzeitigen Strukturen nicht optimal sind. Der problematischste Punkt ist aus meiner Sicht das Trainerwesen. Nur weil es jetzt immer mehr hauptamtliche Trainerstellen gibt, heißt das noch nicht, dass wir auch lauter hochqualifizierte Trainer haben, die diese Strukturen ausfüllen können. Auch darin spiegelt sich ja die Wertschätzung einer Gesellschaft: dass genug Trainer ausgebildet werden, dass sie entsprechende Berufschancen haben und gut bezahlt werden, dass sich überhaupt Menschen für diesen Karriereweg entscheiden möchten.

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