Wenn all die Dokus über Sportler eines gemeinsam haben, dann dies: Sie handeln davon, wie wichtig es ist, eine Bestimmung zu finden, die Rolle im jeweiligen Abschnitt einer Karriere, die ja meistens nicht schnurgerade verläuft und schon gar nicht schnurgerade geplant werden kann; und wie bedeutsam es sein kann fürs persönliche Glück, an entscheidenden Stellen die richtige Entscheidung zu treffen. Genau deshalb lässt sich bereits vor dem Finale der US-Fußballliga MLS zwischen Los Angeles Galaxy und den New York Red Bulls feststellen: Marco Reus hat sehr, sehr viel richtig gemacht mit diesem Wechsel über den Atlantik.
Er ist der unbestrittene Fußballstar dieses Endspiels, sein Gesicht ist auf den überdimensionalen Plakaten neben den Highways zu sehen. Er soll Galaxy gegen die New Yorker Bullen des deutschen Trainers Sandro Schwarz zur ersten Meisterschaft seit zehn Jahren führen – zugleich wäre es die erste seiner eigenen Laufbahn. Was für eine Geschichte!
TV-Rechte-Vergabe der DFL:„Ganz Europa horcht auf“
Die Prognosen waren pessimistisch, andere Ligen erlitten Einbußen: Doch die Deutsche Fußball-Liga steigert mit dem neuen TV-Deal sogar den Gesamterlös für die kommenden vier Jahre. Der DFL-Chef Hans-Joachim Watzke jubiliert über 1,12 Milliarden pro Saison.
Natürlich könnte man als typisch deutscher Fußball-Naserümpfer sagen: Na ja, eine Meisterschaft mit LA Hotzenplotz in der Operettenliga MLS – was ist das schon für einen, der bei seinen ersten Bundesliga-Einsätzen für Gladbach vor mehr als 15 Jahren das Versprechen abgegeben hatte, Champions-League- und WM-Endspiele zu prägen und Borussia Dortmund nach dem Wechsel 2012 Meisterschaften zu bescheren? Die Antwort, nicht nur aus optimistisch kalifornischer Perspektive: Es würde sehr viel bedeuten, würde Reus am Samstag (Anpfiff 22 Uhr, MEZ) den Henkelpott für den MLS Cup in den Himmel von Los Angeles strecken. Galaxy hat dem Reglement zufolge als Team mit der besseren Bilanz in der regulären Saison Heimrecht, und es ist schon so, auch wegen regulärer Saison-Dümpelei in anderen US-Ligen: Der Samstag gehört dem Fußball, sie feiern ein Fest, und LA gegen New York ist immer etwas Besonderes.
Erstens: Was wäre die Alternative gewesen? „Ich hatte gut Zeit, das alles zu verarbeiten“, hatte Reus bereits kurz nach seinem Wechsel nach LA Ende August zur SZ gesagt. Freilich meinte er damit, dass er nach 13 Spielzeiten in Dortmund nicht mehr gebraucht und ihm das auch recht deutlich gesagt wurde. Er dürfte bei dieser Verarbeitung aber auch daran gedacht haben, womit er noch so hatte umgehen müssen in seiner Karriere: Niederlage im Champions-League-Finale 2013 gegen den FC Bayern, in dem er den Elfmeter zum Dortmunder Ausgleich herausgeholt hatte. Dortmunder Kollaps im Bundesliga-Endspurt 2023. Das verlorene Champions-League-Endspiel gegen Real Madrid in diesem Sommer. Und, natürlich: die verpasste WM 2014 nach Verletzung im letzten Vorbereitungsspiel – überhaupt dürfte sich wohl nur Holger Badstuber beschweren, wenn man Reus auf Platz eins der Fußballer mit dem schlimmsten Verletzungspech der Geschichte führen würde.
Insofern mutete die Meldung, dass Reus nun auch vor dem US-Finale angeschlagen ist, fast schon zynisch an. Im Halbfinale gegen Seattle (1:0) musste er mit einer Adduktoren-Blessur vorzeitig vom Feld. Unter der Woche äußerte sich Reus allerdings optimistisch, im Endspiel dabei sein zu können.
Er soll mit Galaxy nicht nur Titel gewinnen, sondern auch Attraktion und Vorbild zugleich sein
Zwei Aussagen von Reus sollte man nie vergessen. Die erste: „Ich würde auf alles Geld verzichten, wenn ich gesund genug wäre zu tun, was ich liebe: Fußball spielen.“ Die zweite: Dass er ja immer wieder mal hätte wechseln können, nach Paris, Madrid, Manchester, Mailand; Orte, an denen Titel quasi garantiert sind. „Ich will wirklich mit diesem Klub deutscher Meister werden“, sagte er 2019: „Er ist Heimat und Familie.“ Aber Fußball ist auch ein Geschäft, und da wird man nun mal sogar von daheim rausgeschmissen. Was hätte Reus also tun sollen? In der Bundesliga – Angebote hatte er – um Platz sechs zocken? In Saudi-Arabien – auch dahin hätte er gehen können – das Zehnfache seines MLS-Salärs (1,2 Millionen Dollar) kassieren?
„Ich wollte immer, dass sich meine Familie wohlfühlt“, sagt er über Ehefrau Scarlett und die zwei Kinder: „Wir können in Los Angeles was aufbauen, Kontakte knüpfen, unseren Horizont erweitern.“ Er soll dort ja nicht nur Titel gewinnen, sondern zum einen auch eine Attraktion sein, wie es andere Stars wie Lionel Messi in Miami, Olivier Giroud bei Lokalrivale LAFC oder der jahrelange RB-Leipzig-Dirigent Emil Forsberg beim Finalgegner aus New York sind – und zum anderen auch ein Vorbild für junge US-Talente: Die MLS sieht sich mittlerweile als Sprungbrett, die Elder Statesmen aus Europa und Südamerika sollen US-Jungspunden vorleben, was sie beim Sprung in die europäischen Haifischbecken erwarten dürfte – damit sie nicht untergehen, wie es Landon Donovan in Leverkusen und München passiert ist.
Reus’ Vertrag läuft bis Ende 2025. Er hat sich blendend eingeführt in LA mit einem Tor und vier Vorlagen in den sechs Spielen der regulären Saison nach seinem Wechsel. Im Finale kommt ihm nun eine besondere Rolle zu, weil sich das Schicksal, dieser miese Verräter, eine besondere Pointe ausgedacht hat: Riqui Puig, der 25 Jahre alte Superstar aus Spanien, ausgebildet beim FC Barcelona, verletzte sich beim Halbfinalsieg gegen Seattle schwer am Kreuzband; deshalb soll Reus das Galaxy-Mittelfeld alleine lenken und eine Geschichte liefern wie der Waliser Gareth Bale 2022: In Europa nicht mehr gewollt, erzwang er mit dem Treffer in der achten Minute der Nachspielzeit in der Verlängerung des Finales ein Elfmeterschießen, das sein Verein LAFC gewann.
Marco Reus, diese treue Seele; der begnadete, aber oft vom Pech verfolgte Fußballer, der Titel gewinnen will an einem Ort, an dem er sich daheim fühlt: Dieser Marco Reus steht mit 35 im Finale einer Liga, in der auch Messi und Giroud spielen, Sergi Busquets und Lorenzo Insigne, und er dürfte eine prägende Rolle einnehmen in dieser Partie, womöglich entscheidet er sie sogar. Die Fußballgötter müssen einem schon einen Stein anstatt eines Herzens geschenkt haben, wenn man dieses Szenario nicht aufregend, spannend, sentimental findet – und wunderbar passend für die Doku, die es irgendwann über Marco Reus geben wird.