Als die Arbeit getan war, ging auch Marco Reus mit den Kollegen in die Kurve der Borussen-Fans. Irgendwo in der zweiten Reihe stand er und reckte, nach seiner späten Auswechslung von einer gelbschwarzen Daunenjacke ummantelt, doch noch immer in kurzen Arbeitshosen, die Arme zum Applaus in die Höhe. Auch später, als er in der Leipziger Arena den Gang zur Kabine antrat, hielt er sich zurück.
Er ließ die wartenden Journalisten stehen; wer weiß, ob aus Gründen bloßer Indifferenz, oder weil er um seinen Beitrag zu einem Punktgewinn kein Aufheben machen wollte. Der war durchaus beachtlich. Denn dass Borussia Dortmund bei RB Leipzig gespielt und damit den Dreipunkte-Vorsprung auf den Rivalen um die Champions-League-Plätze gewahrt hatte, war vor allem Reus zu verdanken, der mit seinem Ausgleichstor (34. Minute) für etwas gesorgt hatte, was vor allem die erste Halbzeit sehenswert machte: einen Moment der Anmut.
Trainer Peter Stöger bezieht Marco Reus bei allen Entscheidungen mit ein
Zumindest dann, wenn man in der Intuition Anmut entdecken will. "Das war eine dieser Situationen, die ihn auszeichnen, in denen er mit Tempo in die Tiefe geht und dann die Ruhe hat, am Torwart noch vorbeizugehen", sprach Leipzigs Innenverteidiger und Kapitän Willi Orban, als er nach der Partie bereits bei einem TV-Interview die Aufzeichnung des Treffers sehen durfte: "Das war gut gemacht, das muss man sagen." Zwar beschwerten sich die Leipziger nicht ganz zu Unrecht darüber, dass Reus wohl mit einer Fußspitze - das heißt: mit bloßem Auge kaum erkennbar - im Abseits gestanden hatte, als Mahmoud Dahoud den Ball in den Raum spielte, den Reus erspäht hatte.
Doch entscheidend war, dass die Leipziger Hintermannschaft "nicht den Pass antizipiert" hatte, "das hätte man vielleicht ein bisschen vorher lesen können", ärgerte sich Orban. Intuition, sagte einmal der argentinische Fußballweise Jorge Valdano, sei "Intelligenz in Höchstgeschwindigkeit"; und davon hat Reus eine ganze Menge. Es war sein drittes Tor im laufenden Spiel- und Kalenderjahr. Erst sein drittes Tor, könnte man hinzufügen, wenn man nicht wüsste, dass Reus gerade mal vier Spiele bestritten hat und erst vor wenigen Wochen, nach 259 Tagen Verletzungspause, zu der ihn ein Anriss des Kreuzbandes aus dem vergangenen Sommer gezwungen hatte, auf den Rasen zurückgekehrt war.
Die Verletzungen und Reus, das ist ja auch so eine Geschichte, seine Krankenakte hat mehr Seiten als manches Werk des russischen Schriftstellers Tolstoi. Das bedeutet aber nicht nur, dass er bekanntlich schon einige Turniere verpasst hat - zuletzt die WM 2014 und die EM 2016 -, sondern auch, dass er einige Comebacks hinter sich hat und sich dann, anders als viele andere Profis, sofort wieder auf dem Rasen zu orientieren wusste.
"Das ist seine Qualität. Er ist immer stärker zurückgekommen", sagte Maximilian Philipp, der am Samstag selbst nach 70-tägiger Verletzungspause erstmals wieder mitwirken konnte. "Er ist ein Spieler, der das Niveau jeder Mannschaft hebt. Das war auch heute so", sagte Peter Stöger, der als Trainer von Borussia Dortmund in nun schon zehn Spielen ungeschlagen ist.
Das liegt auch daran, dass seine Mannschaft in diesen Partien zum fünften Mal einen Rückstand wegstecken konnte. Gegen die Leipziger hätte die Aufholjagd auch gut im so genannten Matchplan stehen können: Sie haben schon zum achten Mal in dieser Saison eine eigene Führung verspielt; diesmal hatte sie Jean-Kévin Augustin (28.) erzielt, nachdem RB-Mittelfeldspieler Naby Keita dem Dortmunder Mittelfeldspieler André Schürrle den Ball abgejagt hatte.
Dann schlug Reus zu - mit der Eiseskälte der Russland-Peitsche, die sich über die Arena gelegt hatte. "Man ist nicht wahnsinnig intelligent, wenn man sagt, dass er ein außergewöhnlicher Spieler ist, der, wenn er fit ist und Rhythmus hat, einen Unterschied ausmachen kann, in jedem Spiel", sagte Trainer Stöger nach dem temporeichen Spiel. "Für Beamten-Fußball wart ihr ganz schön flott unterwegs", juxte RB-Trainer Ralph Hasenhüttl in Anspielung auf den Vorhalt von BVB-Manager Michael Zorc aus der Vorwoche.
Dass das für Reus nach der langen Leidenszeit mit Abstrichen gilt - geschenkt. "Es ist Gott sei Dank so, dass er schmerzfrei ist, das Knie ist okay. Wir müssen trotzdem schauen, dass wir ihn nicht überbelasten", erklärte Stöger. Er weiß, dass Reus kaum etwas sehnlicher wünscht als eine WM-Teilnahme im Juni. Auch die Entscheidung, sich unters Messer zu begeben und eine längere Erholungszeit in Kauf zu nehmen, statt das Kreuzband konservativ zu behandeln, hatte damit zu tun: Auf diese Weise hatte Reus die größere Gewissheit, einen Rückfall zu vermeiden.
Auch jetzt redet Reus mit: Stöger bezieht ihn bei den Entscheidungen, ob er von Beginn an spielt, wie lange er auf dem Feld steht oder gar mal pausiert, ausdrücklich mit ein, "wir sind da im engen Austausch", sagte Stöger. "Dass er gesund bleibt, ist für uns wichtig. Aber auch, weil wir ihm im Sommer ein Turnier wünschen", fügte der Österreicher mit Blick auf die WM hinzu. Bundestrainer Joachim Löw dürfte das freuen.