Karriereende von Marcelinho:Montags sprach er immer Deutsch

Karriereende von Marcelinho: Er traf für Hertha BSC aus offiziell 48,3 Metern: Marcelinho.

Er traf für Hertha BSC aus offiziell 48,3 Metern: Marcelinho.

(Foto: AFP)
  • Der Brasilianer Marcelinho beendet mit 45 Jahren seine Karriere.
  • Für Hertha BSC hat er einmal aus 48,3 Metern ein Tor erzielt - er hat dem Fußball aber auch manche Partygeschichte beschert.

Von Javier Cáceres

Den vielleicht traurigsten, widersprüchlichsten Tag seiner Fußballkarriere verbrachte Marcelinho Paraíba mit einer Bierflasche in der Hand. Vor einem brasilianischen Restaurant in der Berliner Leibnizstraße, das nie berühmt wurde und längst geschlossen ist. Es war der 30. Juni 2002. Die Besucher des Lokals hatten mit einer Party den Verkehr lahmgelegt, unter den toleranten Augen der Polizei.

Brasilien war in Yokohama Weltmeister geworden, durch ein 2:0 gegen Deutschland, und das war der Grund ihrer Freude. Doch dass aus Marcelinhos Augen auch Trauer sprach, während um ihn herum Frauen und Männer in brasilianischen Trikots tanzten, auf Trommeln und Glocken Rhythmen schlugen, die sie an die ferne Heimat erinnerten, hatte damit zu tun, dass Marcelinho wusste: Er hätte es verdient gehabt, bei der WM in Japan dabei zu sein. Ihn marterte ein Zweifel: Habe ich es selbst verbockt?

In zwei Monaten wird Marcelinho 45 Jahre alt, doch erst jetzt hat er seine Profikarriere beendet. Am Sonntag wurde er bei einem Spiel seines letzten Klubs, Desportiva Perilima, ausgewechselt. Im Estádio Amigão, dem Stadion, das sein Vater, der frühere Stürmer Pedrinho Cangula, eingeweiht hatte: Er schoss dort 1975 das erste Tor überhaupt. Nur eine Handvoll waren dort, seine Freunde und seine Tochter Viviane. Mit einem T-Shirt: "Auf immer unser Krieger." Zur zweiten Halbzeit, und nachdem die Tränen getrocknet waren, saß Marcelinho auf der Bank: Er wird nun bei Perilima als Co-Trainer arbeiten.

Sein eindrücklichstes Tor: ein Treffer aus offiziell 48,3 Metern

Dass er es verdient gehabt hätte, bei der WM 2002 dabei zu sein, ergab sich daraus, dass er die Qualifikations-Optionen der Brasilianer gewahrt hatte; mit einem Tor beim 2:0 gegen Paraguay. Der damalige Nationaltrainer Luís Felipe Scolari versprach ihm danach, ihn zur WM 2002 mitzunehmen. Doch dann ließ er ihn fallen. Marcelinho war im Januar 2002 mit zirka 120 Stundenkilometern über den Kaiserdamm in Berlin gerast, mit 1,27 Promille im Blut. Scolari kannte kein Pardon. Marcelinho sah die WM vor dem Fernseher, in der deutschen Hauptstadt, wo sie ihn immer noch verehren. "Er war der wichtigste Fußballer Herthas der letzten zwei, drei Jahrzehnte", sagt Andreas "Zecke" Neuendorf, der bei Hertha der engste Freund Marcelinhos war.

Marcelinho war 2001 nach Berlin gekommen. Er schoss in 155 Spielen 65 Tore und verbreitete in der Stadt einen Hauch von großem Fußball. Sein eindrücklichstes Tor: ein Treffer aus offiziell 48,3 Metern gegen den SC Freiburg. Vor allem aber lieferte er Schlagzeilen. Er ließ sich immer wieder die Haare bunt färben; einmal wollte er die deutsche Fahne aufs Haupt, heraus kam wegen eines Farbendrehers die belgische. Und er konnte feiern. "Er hat hundertfach versprochen: Das war das letzte Mal", sagt Neuendorf.

"Aber dann kam das Wochenende..." Nicht alle hatten das Gespür Neuendorfs für das Offensichtliche: Marcelinho war die größtmögliche Garantie für Erfolg, und das hieß meist: beide Augen zudrücken. Die Trainer und Manager Dieter Hoeneß waren oft damit beschäftigt, ausdrückliche oder implizite Wünsche nach Sanktionen abzuwehren. Marcelinho verriet sich nicht bloß durch geschwollene Augen oder, wie Neuendorf es nennt, "Duftwolken", die man dem Konsum von Alkoholika zuordnen musste: "Wenn er leicht angeschlagen zum Training kam, redete er immer Deutsch." Und er sprach vor allem montags Deutsch. Denn bevorzugt feierte Marcelinho sonntags, in einer Brasilianer-Bar namens Taba.

"Er ist ein herzensguter, positiver Familienmensch"

Dort spielte irgendwann auch die legendärste aller Partygeschichten. Hans-Georg Felder, damals Pressesprecher der Hertha und nunmehr Spielerberater, hatte gesteckt bekommen, dass Marcelinho dort feierte, obwohl Manager Dieter Hoeneß nach einer Niederlage ein Ausgehverbot erteilt hatte. "Ich hab einen Trenchcoat über den quittengelben Pyjama geworfen, bin schnell am Türsteher vorbei und sah Marcelo auf der Box tanzen, in der Hand ein Bier." Die Idee, die Bar wieder zu verlassen, fand Marcelinho nicht so gut. Felder verließ den Laden wieder, Marcelinho blieb. Umringt von Freunden. Oder solchen, die sich so nannten.

Das war und blieb Teil seiner Geschichte. Er hatte drei Wohnungen in Charlottenburg gemietet, für Angehörige und Kumpels aus Brasilien. "Er ist ein herzensguter, positiver Familienmensch. Dass immer behauptet wird, er sei ausgenommen worden, greift viel zu kurz", sagt Neuendorf. Andererseits sind da auch die Geschichten, dass die Freunde das Wechselgeld behielten, nachdem Marcelinho sie mit einem 100-Euro-Schein zum Einkaufen geschickt hatte, für 250 Gramm Hackfleisch. Mal nahm er in Brasilien einen Kredit zu Wucherzinsen auf; dann half ihm Hertha, einen Mietvertrag aufzulösen - jemand hatte ihm die Idee aufgeschwatzt, eine Disco zu eröffnen. Im Jahr 2005 ließ Hertha ihn dann ziehen, zu Trabzospor in die Türkei.

Ein halbes Jahr hielt er es dort aus; danach machte er 50 Spiele beim VfL Wolfsburg - und kehrte nach Brasilien zurück. Er spielte immer weiter, was viel über seine beeindruckende Physis verrät. Bei Flamengo, Coritiba, für den FC São Paulo, schließlich bei immer kleineren Provinzklubs.

Immer wieder schwappten erschütternde Nachrichten über den Atlantik. Mal ging es um eine Anklage wegen versuchter Vergewaltigung, dann angeblich um einen Schlaganfall mit 42. Vor einigen Monaten erschien im Spiegel eine Reportage über den schillerndsten Fußballer, den Hertha je hatte. Er erzählt da, zu Gott gefunden zu haben, geläutert zu sein. "Ich bin ein neuer, glücklicher Mensch", sagte er. Und wer weiß, vielleicht stimmt das sogar.

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