Abschied von Marcel Hirscher:Nationaler Après-Ski

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Viele hätten seinen Stil gerne kopiert – es schaffte nur keiner, so auf den Beinen (und Skiern) zu bleiben wie er: Marcel Hirscher. (Foto: Jean-Christophe Bott/dpa)
  • Marcel Hirscher beendet seine Karriere als Skirennfahrer. In Österreich wird die Verkündung live zur besten Sendezeit im Fernsehen übertragen.
  • Hirscher ist der erfolgreichste Skirennfahrer der Welt. Achtmal nacheinander holte er sich den Gesamtweltcup.
  • Zukunftspläne hat der 30-Jährige noch nicht. Ein Comeback schließt er aus.

Von Johannes Knuth, Salzburg

Und dann ist er endlich da, dieser Moment, auf den sie seit Tagen, Wochen, ach was, Monaten hingefiebert haben. Im ehemaligen Gusswerk in Salzburg brennen Scheinwerfer von der Decke, es herrscht eine nervöse Stille, wie wenn sich im Theater gleich der Vorhang hebt. Man hört nur die Wortfetzen der TV-Moderatoren, die ein paar Meter neben der Bühne stehen, auf der Marcel Hirscher gleich eine Dreiviertelstunde reden wird. Verkündet er, der weltbeste Skirennfahrer der Welt aus Annaberg im Salzburger Land, tatsächlich, dass er nicht mehr Skirennen fahren mag? Überrascht er doch noch alle? "Kleiner Schmäh, ich mach eh weiter"? Das österreichische Fernsehen ist live drauf, natürlich. "Die Skifans hoffen noch auf ein Wunder, die Hoffnung stirbt ja zuletzt,", raunt der Moderator im weißen Hemd und grauen Sakko. Neben ihm steht Alexandra Meissnitzer, blonder Vokuhila, langes weißes Kleid, sie war mal Gesamtweltcupsiegerin und ist heute TV-Expertin. Im Skisport ist es ja wie mit der Mode, manches bleibt, alles kommt irgendwann wieder.

In Woaheit, wie sie hier sagen, sind am Mittwochabend natürlich alle nach Salzburg gekommen, um das zu hören, was eh schon durchgesickert ist: dass Marcel Hirscher wahrhaftig nicht mehr weiterfahren wird. Seit einer Woche, als Hirschers Auftritt in Salzburg bekannt wurde, laufen sie in Österreich schon mit den Abschiedswehen im Kreis, es wird spekuliert, vermeldet, dementiert und zurückgeblickt, es ist eine Art nationaler Après-Ski. 120 Reporter haben sich für den Auftritt angekündigt ("aus aller Welt!"), der ORF überträgt zur besten Sendezeit, sie haben deshalb sogar eine Wahlsendung verschoben. Aber Hirscher ist ja nicht Sebastian Kurz, Kanzler a.D., er ist längst eine Skilegende, und Siege im Alpinsport befeuern in Österreich noch immer das Nationalgefühl wie kaum etwas anderes. Auch wenn man oft nicht so genau weiß, ob das jetzt eine wahrhaftige Größe ist, dieses Skination-Sein, oder ob sie sich umso verkrampfter dieser Größe versichern, je mehr diese in Woaheit dahinschmilzt in Zeiten von Klimawandel und sinkenden Einnahmen der Ski-Industrie.

Aber das ist jetzt, im Salzburger Gusswerk, ja eh wurscht. Wenn eine Skilegende schon mal zurücktritt, dann richtig.

Hirschers Abschied ist am Mittwoch seit den Morgenstunden das Dauerthema, am Nachmittag spielt Ö3, die Gute-Laune-Radiowelle, ein paar Grußbotschaften ein: "Mehr als Sie erreicht haben, kann man als Skifahrer kaum erreichen", sagt Alexander Van der Bellen, der Bundespräsident; ehemalige Kollegen gratulieren, von Felix Neureuther bis Lindsey Vonn. Und dann: "In nicht mal mehr zwei Stunden wird sich entscheiden, ob dieser 4. September ein für Österreich historisches Datum wird", sagt die Ö3-Moderatorin feierlich, sie schaltet jetzt rüber zu Adi Niederkorn, dem Reporter, "der wirklich immer an Marcels Seite war, bei seinen großen Siegen, als er frisch verliebt war - und du lässt ihn auch heute nicht allein, oder?" Niederkorn enttäuscht nicht, er weiß schon, dass Vater Ferdinand Hirscher, "der Ferdl", heuer am Abend nicht dabei ist. "Der ist so nah am Wasser gebaut, der will sicher vermeiden, dass seine Tränen um die Welt gehen." Dafür gibt Stefan Illek Auskünfte, Hirschers Pressesprecher. "Wird's sehr emotional werden?", fragt Niederkorn. "Für mich schon", sagt Illek, "aber das interessiert ja keinen. Für Marcel aber auch, und man wird sehen, wie er damit umgeht."

Marcel Hirscher vor seiner Trophäensammlung. (Foto: AP)

Das Gusswerk in Salzburg ist einer dieser rustikal-edlen Event-Bauten, außen braune Backsteine und Schornstein, drinnen weißer Putz; ein paar Querstreben und eiserne Gusstöpfe sind noch erhalten. Im Hauptsaal ist das Licht bläulich-dunkel, kleiderschrankgroße Bildschirme zeigen Fotos von Hirscher aus seinen zwölf Profijahren. Er ist meist in Siegerpose, zu Beginn sind die blonden Haare noch wuschelig und die Schultern schmal, mit der Zeit hat er sich einen blonden Bart zugelegt (und einen kräftigen Oberkörper, aber das Dopinggeraune hat er immer zurückgewiesen). Manche seiner 20 Kristallkugeln, für die Siege im Gesamtweltcup und den Disziplinenwertungen, sind hinter Glasscheiben ausgestellt. Als hätten sie ihm schon mal sein eigenes Museum eingerichtet.

Hirscher lässt den Rummel stoisch über sich ergehen. Als es losgeht, wird noch mal ein Film eingespielt, der ihn als Überfigur inszeniert, Hirscher, wie er Gewichte wuchtet, Hirscher in Schräglagen auf Ski, die nur er halten kann, Hirscher im Ziel, die Kommentatoren kreischen. Er tritt auf die Bühne, weißes T-Shirt, blaue Jeans, weiße Socken und Sneakers. Die erste Fragerunde mit Marco Büchel, ebenfalls Ski-Pensionist und jetzt TV-Experte, ist angenehm unaufgeregt nach all dem Pathos zuvor. "Ich mach's kurz und schmerzlos", sagt Hirscher: Jetzt aufzuhören, sei eine "ganz a schlaue Idee", es habe "viele Gründe" gegeben. Aber im Grunde ist es recht einfach. Er, der sich immer zu "150 Prozent" in den Sport gekniet hat (und seit einem Jahr Vater ist), ist müde, körperlich und mental. "Mein Akku lädt nicht mehr so schnööö auf wie mit 18", sagt er, außerdem wolle er auf Höhe seiner Kraft gehen. Hirscher hat sich in zwölf Jahren im Hochleistungsgeschäft nur zweimal ernsthaft verletzt (zwei Knöchelbrüche), und das in einem Geschäft, in dem Kreuzbandrisse fast so gewöhnlich sind wie eine laufende Nase im Winter. Es ist sein letzter großer Erfolg.

Und noch was fällt jetzt auf: sein Lächeln. Es ist so ein dankbares, erleichtertes Lächeln, eines, das man in den vergangenen Jahren von ihm selten so gesehen hat.

Hirscher setzt jetzt noch mal zu einem Lauf durch seine Karriere an, die ersten Jahre, die Heim-WM 2013 in Schladming, als vielen Teamkollegen die Nerven versagen und er nicht nur sein erstes WM-Gold gewinnen soll, sondern auch die Hoffnungen der Nation retten muss. Die Schlagzeilen kann er noch heute aufsagen, "keine einfache Zeit", sagt er. Aber er hat schon damals diese "Coolness, damit umzugehen; die hast du mitgekriegt oder nicht". Und so sieht er es fortan fast als heilige Pflicht an, all sein Potenzial zu heben, auch wenn er dadurch in Österreich ein Leben unter ständiger Beobachtung führt. Sein Ausrüster fertigt vor jedem Winter 100 Paar Ski an, je 40 für Slalom und Riesenslalom, 20 für die Speed-Rennen, und vor jedem Lauf testen sie so lange, bis Hirscher das Paar gefunden hat, das ihm noch eine Zehntelsekunde mehr schenkt. Es treibt ihn oft in die Erschöpfung, fast ins Burnout, aber es ist der "Schlüssel zu allem", wie Hirscher nun sagt, denn: "Was ich beim Material rausholen kann, muss ich nicht schneller fahren."

Dann dankt er seinem Vater, "der Mastermind", der dieses Jagen nach Zehntelsekunden perfektioniert hat. Was Hirscher höflich ausspart: dass sie am Anfang noch belächelt wurden im mächtigen Österreichischen Skiverband; der Skitrainer Hirscher und sein Sohn, der "wie Ziegenpeter" auf einer Hütte in den Salzburger Dolomiten aufgewachsen ist, ohne Strom und warmes Wasser, dafür mit Kühen, Fröschen, Schlangen. Hirschers Skitechnik sei unmöglich, sagen die schlauen ÖSV-Trainer damals, aber Hirscher vertraut dann doch seinem Vater. Erst später, nach den ersten Erfolgen, finanziert ihm der Verband ein eigenes Team, mit Trainern, Servicekräften, Physiotherapeut, Pressesprecher.

Hirscher hat sich oft schwer damit getan, dass die Heimat nach seinen ersten Siegen immer wieder Siege erwartet, aber in Woaheit, sagt er jetzt, habe er sich diese Erwartungen immer zu eigen gemacht. Er versprüht nicht das Charisma eines Neureuthers, den sie in Österreich für dessen Schmäh lieben, er fährt nie nackt den Hang herunter wie Rainer Schönfelder, er hat nicht diese gewaltigen biografischen Brüche wie Hermann Maier, der wenige Tage nach seinem gewaltigen Sturz in Nagano 1998 zwei Olympiasiege holt. Hirscher stand immer für Zielstrebigkeit und maximalen Ertrag, aber er wurde so auch "einer der wenigen Athleten, bei denen die Realität größer geworden ist als die Träume", wie er jetzt sagt. Das kommt in einer Skination dann doch ganz gut an.

Zum Abschluss dürfen auch die Reporter in Salzburg Fragen stellen, sie fragen unter anderem, ob es bald ein Marcel-Hirscher-Museum mit allen Kristallkugeln geben wird ("Schaun 'mer mal"), ob er ein Buch schreiben will ("Frühestens mit 60") und ob er auch die Journalisten vermissen werde ("Den einen oder anderen schon"). Was er in Zukunft tun wird, lässt er offen, er freue sich jetzt erst einmal, dass er in aller Ruhe frühstücken könne. Und ein Comeback werde es sicher auch nicht geben, zumindest nicht als Skirennfahrer. Dann applaudieren alle, Hirscher lächelt noch einmal, dankbar, erleichtert. Dann ist er weg.

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© SZ vom 06.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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