Marathon in London:Stumme Schreie

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Die Einsamkeit des Verlierers: Eliud Kipchoge (Mitte) kommt in London mehr als eine Minute hinter Sieger Shura Kitata (links) ins Ziel. (Foto: Richard Heathcote/Getty Images)

Auch Großmeister sind nicht vor Unwägbarkeiten gefeit: Eliud Kipchoge erleidet eine schwere Niederlage.

Von Johannes Knuth, London/München

Da war sie wieder: die Grimasse. Dieses leicht gequälte, gerade noch spielerische Lächeln, mit dem Eliud Kipchoge für gewöhnlich die Schmerzen vertreibt, die irgendwann auch in den wehrhaftesten Marathonkörper kriechen. Nur: Kipchoge lächelte diesmal schon sieben, acht Kilometer vor dem Ziel, das war ungewöhnlich früh. Und mit jedem Schritt schien die lindernde Wirkung seines Lächelns nachzulassen. Bis seine Miene bei Kilometer 38 nur noch einen stummen Gedanken herausschrie: Ich schaffe es nicht!

Ich schaffe es nicht?

Was soll man bloß halten von diesem merkwürdigen Jahr? Gewissheiten zerschellen, und Vorhersagen sind in etwa so simpel zu treffen wie der Versuch, die Feinheiten der finnischen Sprache während einer stundenlangen Achterbahnfahrt einzustudieren. Andererseits: So betrachtet war der Verlauf dieses 40. London-Marathons fast schon wieder zwingend. Die Veranstalter hatten ihr 40. Auflage mit dem Duell zwischen Eliud Kipchoge und Kenenisa Bekele beworben, den einzigen Männern, die im Marathon je die Marke von 2:02 Stunden unterboten haben. Shura Kitata blieb also vermutlich gar nichts anderes übrig, als dieses Rennen am Sonntag an sich zu reißen. Der 24-jährige Äthiopier hatte die großen Stadtmarathons in London und New York vor zwei Jahren zwar schon als Zweiter beendet - ersteren hinter Kipchoge - er war dabei aber stets im Schatten der Sieger versunken. Und jetzt: Schleppte sich Kipchoge, der Olympiasieger, Weltrekordhalter und größte Marathonläufer der Historie, wahrhaftig als Achter ins Ziel. Nach 2:06:46 Stunden, sieben ungeschlagenen Jahren und elf Siegen in zwölf offiziellen Marathons. Bis zu diesem Sonntag.

Kipchoges scheinbar größter Widersacher hatte sich bereits am Freitag kurzfristig abgemeldet, Kenenisa Bekele plagte eine Wadenverletzung. Der 38-jährige Äthiopier hat seit seiner ruhmreichen Bahn-Karriere immer noch nicht so recht im Marathon Fuß gefasst; Kipchoge war jetzt jedenfalls noch mächtiger favorisiert. Gut, der 35-Jährige hatte diesmal nicht in seinem geliebten Camp in Kapsabet trainieren können, wegen der Pandemie - dort, wo er vor großen Rennen läuft, sich erholt, liest und ab und zu die Toiletten putzt, um in diesem außergewöhnlichen Metier den Sinn fürs Einfache und Wesentliche zu wahren. Und ja, das Wetter hatte die britische Hauptstadt am Sonntag mit einem fiesen Gebräu aus Kälte und Nässe überzogen. Man mochte den zitternden Läufern am Start am liebsten eine heiße Tasse Tee reichen.

Aber hatte Kipchoge, dieser Zen-Meister des Marathons, nicht noch immer alle Erwartungen erfüllt? Vor fünf Jahren hatte er in Berlin sogar gewonnen, obwohl ihm kurz nach dem Start seine Sohlen aus den Schuhen gerutscht waren.

Die Favoriten schoben sich zunächst etwas verhalten über den zwei Kilometer langen Rundkurs, den die Ausrichter Corona-bedingt abgeschottet hatten. Erst kurz vor der Halbmarathonmarke, die sie in knapp 63 Minuten passierten, zog das Tempo ein wenig an. Aber nur kurz. Alle schauten auf Kipchoge, aber der schaffte es nicht, das Tempo wie sonst zu forcieren. Eine kleine Verschärfung der Konkurrenz wehte ihn sogar selbst ans Ende der Gruppe. Kipchoge lächelte nun immer häufiger, allmählich schienen die Widersacher zu verstehen, dass der Großmeister tatsächlich verletzbar war. Nach rund 35 Kilometern probierte es Kitata - und Kipchoge zog eine mächtige Grimasse. Fünf Ausreißer fanden sich nun, Meter um Meter legten sie zwischen sich und den Titelverteidiger. Kurz vor dem Ziel setzte der Kenianer Vincent Kipchumba eine erste Attacke im Spurt, aber Kitata konnte gerade noch kontern.

Der Ausgang überschattete umgehend alle bisherigen Punkte auf der Tagesordnung; das Gerede vom Weltrekord, auch die Debatte um die Schuhe von Kipchoges Ausrüster, die seit Jahren im Verdacht stehen, den Läufern einen großen Vorteil zu verschaffen. Kipchoge, der die neumodische Technologie unter der Woche noch verteidigt hatte ("Wir leben im 21. Jahrhundert"), hatte nun andere Sorgen. Bibbernd stand er im Ziel, dampfend vor Enttäuschung. Zur Rennhälfte habe eine Blockade in seinem rechten Ohr verspürt, sagte er, später hatten auch Hüfte und Beine Probleme gemacht. Aber nein, keine Sorge, beteuerte er nun, nur noch bibbernd, er werde zurückkommen, "absolut". Noch schien er das nicht akzeptieren zu wollen: dass auch in den längsten Siegessträhnen schon die Vorboten des Verfalls stecken.

So war es an Brigid Kosgei, der Laufnation zumindest einen Erfolg zu sichern: Die Kenianerin hatte im Vorjahr in London triumphiert und im Herbst in Chicago den Weltrekord auf 2:14:04 Stunden gedrückt; am Sonntag gewann sie in respektablen 2:18:58 Stunden vor der Amerikanerin Sara Hall (2:22:01), die Weltmeisterin Ruth Chepngetich kurz vor dem Ziel auf Rang drei schob. Das Projekt von Arne Gabius, die Olympia-Norm für 2021 zu schaffen, versank indes im Londoner Dauerregen: Der deutsche Rekordhalter schlitterte ab Kilometer 35 mit jedem Schritt in größere Probleme - am Ende fehlten ihm in 2:14:25 Stunden fast zwei Minuten auf die erhoffte Marke. Es war eine weitere Erinnerung an die alte Regel, dass im Marathon ein Plan nur in Ausnahmefällen aufgeht. Sogar bei einer mehrjährigen Ausnahmefigur wie Eliud Kipchoge.

© SZ vom 05.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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