Marathon:Wenn ein Weltrekord zu Feinstaub zerhäckselt wird

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Aus einer anderen Welt: Brigid Kosgei verbessert den 16 Jahre alten Weltrekord der Britin Paula Radcliffe in Chicago um gleich 81 Sekunden. (Foto: Mike Segar/Reuters)
  • Mit einem Marathon in 2:14:04 Stunden gelingt Brigid Kosgei in Chicago ein Weltrekord.
  • Die Kenianerin unterbietet die vorherige Bestmarke - bislang ein Synonym für Unantastbarkeit - um 81 Sekunden.
  • Kosgei war bei ihrem Debüt vor vier Jahren noch mehr als eine halbe Stunde langsamer. Sie wirbt angesichts ihres Leistungssprungs für Verständnis.

Von Johannes Knuth, Chicago/München

Eine unbequeme Stille lag über dem Saal, als Brigid Kosgei, die neue Marathon-Weltrekordhalterin, nach vollbrachter Arbeit die Fragen der Reporter entgegennahm. Wo sollte man auch anfangen, nachdem die schmächtige 25-Jährige soeben eine der denkwürdigsten Bestmarken ihres Sports nicht einfach aus den Angeln gehoben, sondern gewissermaßen zertrümmert, zerkleinert und zu Feinstaub zerhäckselt hatte? Nun ja, begann Kosgei ihren knappen Vortrag mit ihrer warmen, leisen Stimme, sie habe im vergangenen Jahr nun mal sehr hart trainiert. Und wenn man fest an seine Ziele glaube, dann seien solche Zeiten natürlich machbar. Alles eine Glaubensfrage?

So leise Brigid Kosgei aus Kapsowar im kenianischen Hochland daherkommt, so laut war das Getöse, mit dem ihre Bestzeit am Sonntagabend über die Szene hereinbrach. 2:14:04 Stunden hatte sie für die 42,195 Kilometer auf dem ebenen Kurs in Chicago benötigt, 81 Sekunden weniger als Paula Radcliffe vor 16 Jahren in London. Die 2:15:25 der Britin, erschaffen mithilfe von männlichen Tempomachern, galten seitdem als Synonym für Unantastbarkeit, keine Frau hatte bis zuletzt 2:16 oder gar 2:17 Stunden unterboten - Mary Keitanys 2:17:01 vor einem Jahr in London galten bereits als sinnbetäubendes Spektakel. Und jetzt: 81 Sekunden schneller? Da taugte selbst die kleine Ewigkeit, die bei massiven Leistungssprüngen gerne als Vergleichsreferenz herangezogen wird, kaum als Maßstab. Und anders als ihr Landsmann Eliud Kipchoge am Tag zuvor hatte Kosgei ihre Leistung in einem regelkonformen Rennen geschafft.

Der Spitzensport, der in vielen Disziplinen ja bereits die menschlichen Grenzen ausgereizt zu haben schien, hat zuletzt eine durchaus erstaunliche Zahl an neuen Leistungsstufen erschlossen. Sei es bei der Leichtathletik-WM in Doha, bei den Siegen der deutschen Triathleten auf Hawaii oder jetzt in Chicago. Da kann man wohl nur staunen, einerseits. Andererseits muss man all diese neuen Kapitel wohl auch mit einem gewissen Unbehagen lesen, nicht zuletzt dank diverser Dopingenthüllungen, durchlässiger Kontroll-Netze und Designerstoffe, die noch kein Dopingradar so recht erfasst. Man kann das schlecht den Athleten anlasten, vielmehr den Sportverbänden und ihrer noch immer nachlässigen Anti-Doping-Politik. Aber bei Kosgei springt halt auch diese Steigerung ins Auge: Vor vier Jahren debütierte sie im Marathon in 2:47:59 Stunden, jetzt also diese 2:14:04. Solche Sprünge sind selbst mit dem Maßstab der kleinen Ewigkeit schwer zu erfassen.

"Ich glaube, dass Frauen sogar 2:10 Stunden schaffen können"

Kosgei, dunkelblauer Trainingsanzug, die Haare zu feinen Zöpfen geflochten, warb am Sonntag mit leiser Stimme um Verständnis. Sie habe im letzten Jahr wirklich hart gearbeitet, derart fokussiert habe sie sich zuvor kaum ins Training knien können. Tatsächlich brach sie vor sieben Jahren die Schule ab, bekam zwei Kinder, schloss sich 2015 der Trainingsgruppe von Erick Kimaiyo an. Kosgeis Mann passte unterdessen zu Hause auf die Kinder auf - eine Konstellation, die in Kenia bis zuletzt kaum denkbar war - während die 21 Jahre alte Mutter die Familie mit Preisgeldern aus den lukrativen Straßenrennen finanzierte.

2016, ein Jahr nach ihrem 2:47er-Debüt, schaffte Kosgei schon 2:24:45 in Honolulu, 2017 dann 2:20:22 in Chicago, im vergangenen Frühjahr gewann sie in London in 2:18:20. Und nun? "Ich bin hierher gekommen, um meine persönliche Bestzeit zu laufen", sagte sie in Chicago, aber ja, sie hatte sich schon die 2:15 Stunden vorgenommen. Was ihr dann auch locker gelang, mit zwei gleichwertigen Halbmarathons (66:59 und 67:05 Minuten). Als könne man einfach weiter seine Grenzen verschieben.

Mit den Grenzen ist das gerade nur so eine Sache im Ausdauersektor. Auch Kosgei lief, wie Kipchoge in Wien, am Wochenende im neuen Schuhmodell von Nike, das seit zwei Jahren für eine kleine Rekordwelle im Marathon zumindest mitverantwortlich zu sein scheint. Zum anderen wird Kosgei vom Italiener Federico Rosa betreut. Dessen Klienten flogen zuletzt immer wieder mit dem Blutdopingmittel Epo auf: die zweimalige Chicago-Siegerin Rita Jeptoo, Rio-Olympiasiegerin Jemima Sumgong, der dreimalige Weltmeister Asbel Kiprop. Kosgei selbst ist bislang nicht auffällig geworden, auch nicht im rigoroseren Testprogramm, das die Veranstalter der großen Stadtmarathons mittlerweile aufgespielt haben. Sie wisse auch gar nichts über Doping, sagte Kosgei in Chicago, und überhaupt: "Jeder Mensch, der hart arbeitet, kann sauber laufen. Ich glaube, dass Frauen sogar 2:10 Stunden schaffen können."

So ist das im modernen Mediensport: Kaum ist ein Kapitel geschrieben, wird das nächste verhandelt. Ein Frauen-Marathon in 2:10 Stunden? Alles offenbar nur eine Frage des Glaubens in diesen bewegten Marathontagen.

© SZ vom 15.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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