Süddeutsche Zeitung

Marathon:Der Erste und der Jüngste

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Noch nie gewann ein 19-Jähriger einen WM-Marathon und noch nie holte jemand aus Eritrea eine Goldmedaille. Dabei waren die Eltern von Ghirmay Ghebreslassie gegen seine Lauf-Karriere.

Von Johannes Knuth, Peking

Ghirmay Ghebreslassie lief dann einfach weiter. Eigentlich hatte Ghebreslassie gerade die Ziellinie passiert, im Marathon der Männer bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften in Peking. Doch weil ihn dort kein Kampfrichter empfing, kein Zielband gespannt war und die Marathonläufer bei Großveranstaltungen oft eine vollwertige Runde im Stadion drehen müssen, stellte Ghebreslassie den Betrieb noch nicht ein. Erst als der junge Mann aus Eritrea auf eine Gruppe Siebenkämpferinnen stieß, die gerade auf der Bahn ihren Anlauf für den Hochsprung vermaßen, ahnte Ghebreslassie, dass er seit einigen Sekunden wohl Weltmeister war.

Er konnte die Feierlichkeiten umgehend aufnehmen, er hatte sich 100 Meter vor dem Ziel eine Flagge seines Landes geschnappt, es gab ja einiges zu zelebrieren. Eritrea hatte bis zum Samstag noch nie einen Weltmeister in der Leichtathletik hervorgebracht, noch nie war ein Weltmeister im Marathon jünger als Ghirmay Ghebreslassie, 19.

Der Weltrekordler steigt aus

Es lief alles ein wenig anders als gedacht bei dieser ersten Entscheidung der WM in Peking. Viele verwirrte Läufer trug es im Ziel weiter als die veranschlagten 42,195 Kilometer, manche bis auf die Gegengerade. Der Beste war ein weitgehend unbekannter 19-Jähriger (2:12:28 Stunden), sein Nachname sah aus wie eine falsch buchstabierte Version des großen Haile Gebrselassie. Zweiter wurde der Äthiopier Yemane Tsegay (2:13:08), Dritter Solomon Mutai aus Uganda (2:13:30).

Die Favoriten aus Kenia hatten das Olympiastadion gar nicht erst erreicht, Dennis Kimetto, der Weltrekordmann, hatte nach der Rennhälfte keine Lust mehr, Wilson Kipsang stieg nach 30 Kilometern aus. 2012 und 2013 war Stephen Kiprotich aus Uganda den Kenianern davongelaufen, auf der Bahn ist der Brite Mo Farah seit Jahren der Beste, nun taumelte die Lauf-Macht in die nächste Niederlage hinein. Marathons bei Großveranstaltungen werden anders gelaufen als in der Stadt, ohne Tempomacher, der ein lineares Tempo vorgibt. "Eine WM", hatte der italienische Langstreckentrainer Renato Canova am Vortag gesagt, dann hielt er inne und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. Kopfsache.

Eigentlich war zu heiß zum Stehen

Ghebreslassie hatte die schweren Gedanken an die Hitze und die starke Konkurrenz offenkundig am besten abgeschüttelt. Nach 34 Kilometern löste er sich von den Verfolgern. Er rollte den langen Boulevard vom Olympischen Park bis zum Vogelnest herunter, bei knapp 30 Grad und drückender Hitze, es war eigentlich zu heiß zum Laufen, zum Stehen, es war einfach furchtbar. "Ich wollte nach Kilometer 34 einfach nur mein Bestes geben", sagte er. Das hatte recht ordentlich geklappt.

Nach dem Zieleinlauf ließ Ghebreslassie die internationalen Reporter erst einmal warten. Die Organisatoren fanden ihn nicht. Als sie ihn in den verwinkelten Katakomben aufgespürt hatten, saß er bald auf dem Podium, er schwebte aber immer noch in einer anderen Welt. "Ghirmay, können Sie die letzten Kilometer beschreiben?", fragte ein Reporter. "Ich möchte erst einmal alle beglückwünschen", sagte Ghebreslassie, "meine Teamkameraden, meine Konkurrenten, meinen Manager Mister Jos (Hermens, niederländischer Manager, Anm.), ich will mich bedanken bei allen Zuschauern, bei allen Organisatoren, beim Verband", Ghebreslassie klang jetzt wie ein Staatschef bei der Neujahrsansprache, "ich danke auch den Menschen in Eritrea, sie geben uns viel Verantwortung."

Es war Ghebreslassies vierter Marathon überhaupt

Er hielt kurz inne. "Entschuldigung, wie war noch mal die Frage?" Ghebreslassie redete dann gelassen vom Rätselraten im Zielbereich, von der Hitze, "ich bin in einer heißen Gegend aufgewachsen", sagte er, "das Wetter hier war sehr schön." Sein überraschender Sieg? "Ich finde, das ist keine Überraschung. Es ist meine erste WM, aber auch starke Läufer können überfordert sein." Ghebreslassie erzählte noch, dass seine Eltern nicht viel von seiner Laufkarriere hielten, sie hatten eine akademische Laufbahn veranschlagt, aber Ghebreslassie blieb stur. Er fand in Jos Hermens einen Unterstützer; Hermens entdeckt, schleift und poliert seit Jahrzehnten afrikanische Laufdiamanten, einer der ersten war Haile Gebrselassie.

Und jetzt ist da dieser Ghebreslassie, Stellvertreter einer Generation, die nicht, wie früher, ihre Karriere auf der Bahn beginnt und später in eine Art zweites Leben wechselt, zu den Straßenwettbewerben. Ghebreslassie hat früh seine Passion für den (weitaus lukrativeren) Straßenlauf entdeckt, wie so viele Läufer aus Ostafrika in den vergangenen Jahren. Ob das den jungen Knochen so gut tut, ist eine andere Geschichte, die Grenzen verschwimmen jedenfalls langsam, zwischen Kenia, Äthiopien, den Erstligisten im Langstreckenlauf, sowie den einst zweitklassigen Läufern aus Uganda und dem lange vom Bürgerkrieg zerrütteten Eritrea. Die jungen Athleten sind aufgeschlossener, Manager wie Mister Jos stellen die Infrastruktur bereit, mit Trainern, Physiotherapeuten, Ärzten vor Ort. Er habe noch viel vor, sagte Ghebreslassie. Peking war sein vierter Marathon überhaupt.

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SZ vom 23.08.2015
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