Marathon:Bange Blicke in die Zukunft

Berlin Marathon

25 000 geimpfte, getestete oder genesene Läufer starteten in Berlin.

(Foto: FABRIZIO BENSCH/REUTERS)

Die Berliner bejubeln ihr Marathon-Comeback nach anderthalbjähriger Auszeit, viele Stadtmarathons ziehen nun nach. Doch die Pandemie hat riesige finanzielle Lücken hinterlassen - nicht alle schauen optimistisch nach vorne.

Von Johannes Knuth, Berlin

Am Sonntagabend, die meisten Absperrungen waren längst von den Straßen und Kreuzungen verschwunden, sahen sich die Organisatoren des Berliner Marathons auf einmal genötigt, eine "dringende Meldung" abzusetzen. Einige Medien meinten erkannt zu haben, dass die Nachschubrouten für Stimmzettel in manchen Berliner Wahllokalen viel zu früh ausgetrocknet waren, weil viele Berliner Straßen am Wahltag wegen des Marathons blockiert waren. Die Veranstalter wiesen das empört von sich, sie zitierten den Wahlleiter für den betroffenen Bezirk Charlottenburg/Wilmersdorf, der auch einräumte, dass das Chaos "internen" Transportproblemen geschuldet sei. Nach eineinhalb Jahren pandemischen Stillstands, so viel war in jedem Fall klar, waren die Läufer nicht gewillt, sich ihr Comeback auf den letzten Metern von den endemischen Berliner Behördenkapriolen vermiesen zu lassen.

Tatsächlich hatten die Berliner bewiesen, dass Laufen mit geimpften, genesenen und getesteten Läufern auch in einer Pandemie funktionieren kann, wenn auch erst mal nur mit halb so vielen Teilnehmern wie gewohnt, knapp 25 000 waren es diesmal. Die damit verknüpfte Botschaft war dennoch beachtlich. Die Berliner waren ja der erste große Stadtmarathon, der sich zurück in den Regelbetrieb gewagt hatte. Bis Anfang November ziehen viele weitere nach, London am kommenden Sonntag, dann Chicago, Boston, New York. Die Branche holt gerade eineinhalb verlorene Jahre in zwei Monaten nach, aber dass jetzt alles wieder gut ist? Kann man auch nicht gerade sagen.

Einer, der wie immer sehr viel davon erzählen kann, ist der Lauf-Manager Jos Hermens, einer der bekanntesten und umtriebigsten Agenten der Szene. Der Niederländer hatte in Berlin unter anderem den prominentesten Starter vertreten, Kenenisa Bekele nämlich, der nicht nur mit einer gewaltigen Begabung gesegnet ist, sondern auch mit einer Vorliebe für bedingt marathonkompatible Essensgewohnheiten. Hermens hat freilich noch eine Menge weiterer Klienten, die keine Zehntausende Euro an Startgagen aufrufen können wie der prominente Äthiopier: die allermeisten aus ostafrikanischen Laufhochburgen, die froh sind, überhaupt wieder laufen zu können. Und wenn Hermens nun so von seinen Kunden und seiner Ausdauerfiliale sprach, redete er bald nicht mehr von Botschaften des Aufbruchs, sondern von Millionenverlusten und einer "totalen Katastrophe".

Kenias Olympiasieger spendeten Geld und Essenslieferungen - sonst hätten viele Athleten hungern müssen

Noch spüren sie in der Laufszene die Ausläufer der vergangenen Monate, als weltweit fast keine Massenläufe stattfanden, in die auch die Eliteläufe eingebettet sind. Start- und Preisgelder für die Profis fließen ja auch nur, wenn Zehntausende Breitensportler ihre Startgebühren überweisen und eine Bühne bieten, die für Sponsoren interessant ist. Das traf vor allem die große Mittelschicht der afrikanischen Berufsläufer, jene, die etwa den Marathon bei den Männern in 2:10 Stunden und langsamer laufen, die nicht in Berlin oder London starten, sondern in China, der Türkei oder Spanien, wo die Schnellsten auch schon mal bis zu 30 000 Dollar kassieren und hoffen, von Sponsoren und Agenten entdeckt zu werden. Und jetzt?

Die kenianische Zeitung Daily Nation entdeckte im vergangenen Sommer auf einer Baustelle in Iten, Kenias Lauf-Kapitale, "mehrere aufstrebende Athleten". Die verdingten sich dort neben dem Training, für rund drei Euro pro Tag. Manche berichteten, dass sie gar nicht mehr liefen, um überleben zu können. Eliud Kipchoge, der es im Marathon zu großem Wohlstand in Kenia gebracht hat, organisierte mit seiner Stiftung damals Essenslieferungen für rund 100 Athleten, die sonst gehungert hätten. Der zweimalige Olympiasieger Kipchoge Keino brachte mithilfe seiner Stiftung weit über 100 000 Euro unters Athletenvolk, für rund 500 Sportler. Heute? Sei die Not noch immer groß, sagte Hermens in Berlin. Erst am Sonntag hätten ihn zwei unbekannte Läufer um Geld gebeten. Andere hätten ihre Karrieren bereits aufgegeben, viele könnten noch folgen, weil sie nach der langen Auszeit nicht mehr in Form kommen oder in die Startfelder. Hermens glaubt: "Das Schlimmste kommt erst noch."

Selbst für diejenigen, die durchgehalten haben, werde es nicht einfacher. Da viele Veranstalter sich den milden Herbst ausgeguckt haben, ballen sich jetzt die Läufe binnen weniger Wochen. Selbst erfahrene Ausdauerkönner schaffen in so kurzer Zeit nur ein gewisses Pensum, und viele Veranstalter sparen mittlerweile auch an Preis- und Startgagen: Die Berliner hatten seit 2010 stets 40 000 Euro für die Marathon-Sieger ausgeschüttet, davor sogar 50 000. Am Sonntag erhielt der Sieger 20 000, der Zehnte noch 1000 Euro. Auch die Berliner Ausrichter, das hatten sie immer wieder betont, waren nur dank Kurzarbeit mit allen rund 70 Festangestellten durch die Pandemie gekommen.

Wer zuvor viel hatte, hatte auch viel zu verlieren, der Manager Jos Hermens spürt das bis heute. Ohne Läufe keine Gagen, an denen seine Agentur verdient, keine Verträge und Sponsorenleistungen. Sein Budget schrumpfte in der Pandemie von zwei auf eine Million Euro, von 50 Mitarbeitern musste er "sieben, acht" entlassen. Ohne staatliche Hilfen wäre sein Unternehmen, das er über Jahrzehnte aufgebaut hatte, wohl schon hinfort gespült. Er ist zuversichtlich, dass seine Klienten (und auch sein Geschäft) demnächst wieder ins Rollen kommen, er weiß aber auch, dass sich manche schwertun dürften, nachdem sie fast zwei Jahre lang keinen Wettkampf bestreiten konnten. "Es wird spannend", sagte Hermens in Berlin. In seiner Stimme lag nicht nur Vorfreude.

Zur SZ-Startseite
Der frühere Skirenn-Profi Felix Neureuther, der auch ARD-Experte ist, Fernsehsendung des Bayerisches Fernsehen unter de; Ski alpin

SZ PlusFelix Neureuther im Interview
:"Ich wäre für so einen Boykott zu haben"

Ex-Skirennfahrer Felix Neureuther spricht über eine mögliche Absage für die Olympischen Spiele in Peking, Folgen des Klimawandels für den Wintersport - und er erklärt, unter welchen Bedingungen er als DOSB-Präsident kandidieren würde.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: