Süddeutsche Zeitung

Diego Maradona:Kettensprenger gegnerischer Fesseln

Könnte Maradona im modernen Fußball noch spielen? Diese Frage ist überflüssig, denn sein Vermächtnis ist, dass das Genie in der Lage ist, sich über das System zu erheben.

Kommentar von Christof Kneer

Als der große Gerd Müller neulich 75 wurde, ist diese Frage natürlich wieder gestellt worden. Ob Müller heute, in diesen dynamischen Zeiten, immer noch 40 Tore pro Saison schießen könnte? Ob er vorher nicht ein wenig an seiner Athletik arbeiten müsste, weil er sonst an keinem Verteidiger von Arminia Bielefeld mehr vorbeikäme? Oder ob er vielleicht eher 80 Tore schießen würde, weil ihn heute kein barbarischer Verteidiger mehr 90 Minuten lang am Rande der Körperverletzung schikanieren könnte, ohne dabei von 1000 Kameras aufgezeichnet zu werden - und weil diese lächerlichen Abwehrketten heutzutage ohnehin so viele Lücken haben, dass Müllers Instinkt gar nicht mehr wüsste, welche er zuerst ansteuern sollte?

Die Antwort auf diese Frage ist erstens Geschmackssache und zweitens eigentlich völlig wurscht. Gerd Müller ist Gerd Müller, und er bleibt das für immer.

Bei Diego Maradona ist die Frage, ob er heute noch spielen könnte, nicht gestellt worden in den Tagen seit seinem Tod, vielleicht aus Pietät. Vielleicht ist die Frage aber auch überflüssig: Wer von den Gestrigen, wenn nicht Maradona, sollte denn sonst heute noch spielen können? Maradona hatte ja nicht nur das Auge und den Fuß, um jenen Sieg bringenden Pass im WM-Finale 1986 zu spielen, mit dem sein Mitspieler Jorge Burruchaga sogar dem gebürtigen Leichtathleten Hans-Peter Briegel davonsausen konnte. Bei seinen geliebten Dribblings hatte Maradona schon damals jene Art von Explosivität, die man heutzutage präzise ... wobei nein: bitte nicht!

Wäre das nicht ein Frevel: Maradona in Zahlen aufzuwiegen?

Seine Sprintwerte zu messen, seine Antrittsgeschwindigkeit zu erheben und sie in eine möglicherweise logische Relation zur oxidativen Kapazität und mitochondrialen Dichte zu setzen? Oder auch nur: seine angekommenen Pässe zu zählen?

Diego Armando Maradona ist größer als die meisten, wahrscheinlich sogar größer als alle anderen Fußballer, die es bisher gab. Und er ist sowieso größer als alle Daten, die es gab, gibt und gegeben haben wird. Maradona ist, auch im besten Sinne des Wortes, nicht zu berechnen.

Maradona ist nun in einer Woche gestorben, in der wieder ganze viele Fußballspiele liefen, man sah wieder viele Mannschaften in austauschbaren Trikots herumrennen und vorbildlich gegen den Ball spielen. Gegen den Ball zu spielen, bedeutet, dass man nicht mit dem Ball spielt, man überlässt ihn dem Gegner und hofft, dass der Gegner einen Fehler macht; in diesem Fall würde man den Ball dann halt nehmen und einen Gegenangriff starten, es hilft ja nix. Um ein Tor zu schießen, braucht man den Ball halt.

Es ist übrigens legitim, so zu spielen, und genauso erlaubt ist es, jene wissenschaftlichen Parameter nutzbar zu machen, die zum Beispiel der, wie sagt man, "Belastungssteuerung" dienen. Und man darf auch behaupten, dass Maradona mit seiner persönlichen Belastungssteuerung manchmal etwas durcheinandergekommen ist, und es ist auch so, dass man über seine oxidativen oder sonstigen Kapazitäten vielleicht gar nicht so genau Bescheid wissen möchte. Man möchte Nachwuchsfußballer nicht auffordern, sich an Maradona ein Beispiel zu nehmen, man muss das in den Internaten auch nicht lehren: Dass es da einen Fußballer gab, der es auch im Rausch noch schaffte, die Zuschauer in einen Rausch zu versetzen.

Dennoch bleibt das nun Maradonas Hinterlassenschaft, es ist das Vermächtnis des kleinen, großen Diego: Er ist der nicht mehr lebende Beweis dafür, dass das Genie in der Lage ist, sich über das System zu erheben. Maradona war und ist ein Kettensprenger: Mit seinen Sololäufen konnte er sich als Spieler ebenso aus den gegnerischen Fesseln befreien, wie er nun als Symbolfigur stellvertretend dafür steht, dass der moderne Fußball es nicht übertreiben sollte.

Ja, man kann heute tadellose Heatmaps erstellen, mit denen sich zweifelsfrei nachweisen ließe, dass ein Spieler 17 Prozent eines Spiels bei Vollmond drei Grad südlich des Mittelkreises verbracht hat. Maradona aber würde die Heatmap zusammenknüllen und wie ein Seehund auf dem Kopf balancieren, während er durch die gegnerische Abwehr dribbelt.

Es ist durchaus ein Fortschritt, dass der Fußball mit den Jahren immer akademischer geworden ist, und dass er immer genauer weiß, was er tut. Aber der Fußball lässt sich von Menschen nur auf eine bestimmte Art und Weise denken und planen, und wenn der Fußball an die Grenzen des Denk- und Planbaren stößt, bleibt er in den entscheidenden Spielsekunden doch wieder der Intuition des Individuums ausgeliefert. Das ist der Trost für all die kleinen und großen Begabungen, die nun nachfolgen - auch wenn sie nicht so viele Tore schießen können wie Gerd Müller oder gar so begnadet sein werden wie Diego Armando Maradona.

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Quelle:
SZ vom 28.11.2020/bek
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