Manuel Neuer:"Ich hab' so einen Helfer-Instinkt"

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Kann ein Torwart Weltfußballer werden? Manuel Neuer spricht über eineinhalb Jahre Guardiola.

interview Von Christof Kneer

Irgendwo hinter Frankfurt bricht das Gespräch kurz ab, "sind Sie noch dran?" fragt Manuel Neuer. Ein paar Sekunden später entschuldigt er sich für das kurze Funkloch, da war ein Tunnel, sagt er. Dann konzentriert sich Manuel Neuer noch einmal, es ist ja ein ungewöhnliches Szenario für ein Interview. Es ist kurz vor Mitternacht, Neuer sitzt mit seinen Teamkollegen im Bus auf der Rückfahrt vom letzten Vorrundenspiel der Bayern in Mainz, er hat dieses Ferngespräch kurz vor dem Urlaub noch mal zugesagt. Denn Neuer weiß ja, dass es weiterhin viele Fragen gibt am Ende dieses Manuel-Neuer-Jahres, also redet er noch mal über die WM und über die Ehre, die ihm am 12. Januar zuteil werden wird. Da wird er, der Torwart, mit Cristiano Ronaldo und Lionel Messi in Zürich auf jener Bühne stehen, auf der der Weltfußballer des Jahres 2014 gekürt wird. Gerne hätte Manuel Neuer, 28, im Bus-Interview auch erklärt, warum er in der gesamten Bundesliga-Vorrunde nur drei Gegentore kassiert hat, aber das geht jetzt nicht mehr. Der Mainzer Soto hat ihm zwei Stunden vor dem Telefongespräch das vierte Gegentor zugefügt. Manuel Neuer ist müde, aber er trägt's mit Fassung.

SZ: Herr Neuer, woran merkt man als Torwart, dass man eine Pause nötig hat?

Manuel Neuer: Bei einem Torwart ist vor allem die psychische Anstrengung in einem Spiel hoch, da merkt man schon, dass man im Kopf allmählich müde wird. Bei mir ist es etwa seit Anfang Dezember so, dass ich anfange, die Spiele runterzuzählen. Noch vier, noch drei, noch zwei, noch eins . . .

Dass das selbst Ihnen so geht! Sie haben den Ruf, immer spielen zu wollen, in jedem DFB-Pokalspiel, in jedem Länderspiel, auch gegen Gibraltar.

Das stimmt, ich lasse wirklich ungern etwas aus, aber trotzdem wird es irgendwann Zeit für Urlaub. Ich glaube, ich bin im Jahr 2014 der deutsche Spieler mit den meisten Einsätzen.

Die meisten Spieler fliegen in der Winterpause sofort in die Sonne. Fahren Sie auch gleich zum Flughafen, sobald Sie aus dem Mannschaftsbus raus sind?

An Heiligabend gehe ich erst mal in die Kirche und esse an den Feiertagen leckere Klassiker. Winterurlaub muss aber auch sein, den genieße ich dann in vollen Zügen.

Haben Sie schon mal in Ihrem Lizenzspielervertrag nachgeschaut, ob Plätzchen- Essen für Nationaltorhüter erlaubt ist?

Das darf ich, und das mach' ich auch.

Sind Sie auch an Weihnachten ein abgebrühter Profi, oder sind Sie Romantiker?

Weihnachten ist ja schon deshalb etwas Besonderes, weil das Christkind einem da immer was untern Tannenbaum legt. Dieses Kinder-Ritual bleibt irgendwie.

Gab's früher jedes Jahr die neuesten Torwart-Handschuhe?

Die neuesten nicht, aber es gab schon immer wieder welche. Vom Verein bekam ich die erst später gestellt, und da auch nur zwei Paar pro Jahr, und die waren meistens nach zwei Monaten schon wieder durchgescheuert. Jedenfalls musste ich immer irgendwelche Sportgeschenke unterm Weihnachtsbaum liegen haben, ich war nicht so der Lego- oder Playmobil-Typ.

Wenn Sie in diesem Jahr unterm Baum sitzen: Spüren Sie dann Ihre Schulter noch?

"Ich finde, Torwart zu sein, hat schon seine Vorteile, man muss es halt mögen." - Manuel Neuer blickt auf sein erfolgreichstes Jahr zurück. (Foto: Ulmer)

Sie meinen die Verletzung aus dem DFB-Pokalfinale?

Ja, die Verletzung, wegen der es vor der WM große Aufregung gab.

Ich bin ja begeisterter Tennisspieler, und wegen der Schulter habe ich jetzt ein halbes Jahr nicht mehr spielen dürfen. Aber im Sommer will ich wieder anfangen.

Jetzt können Sie's ja verraten: Hatten Sie Sorge, die WM zu verpassen?

Die ein, zwei Tage zwischen der Verletzung und der Diagnose war ich schon unruhig. Ich wusste nicht, woran ich bin. Nach der Kernspin-Untersuchung konnte ich dann aber davon ausgehen, dass ich's schaffe.

Am Ende war's eine Punktlandung. Im Trainingslager in Südtirol haben Sie noch überhaupt kein Torwarttraining machen können, erst in Brasilien haben Sie damit angefangen, und dann waren Sie gerade so zum ersten Vorrundenspiel fit.

Ja, aber ich hatte keine wirklichen Zweifel. Ich wusste, dass es nicht ohne Schmerzen abgeht, gerade bei den Abwürfen, aber bei einer WM muss das mit Adrenalin im Körper einfach gehen. Und es ist dann von Spiel zu Spiel besser geworden.

Die Leute sagen: 2014 war das Jahr von Manuel Neuer. Was sagen Sie?

Was soll ich dazu sagen? Ich kann immer nur auf meine Teamkollegen verweisen, in beiden Mannschaften. Ohne Mitspieler wäre das kein Jahr des Manuel Neuer geworden, ohne Mitspieler wäre Manuel Neuer auf verlorenem Posten gewesen. Und beide Trainer, sowohl Pep Guardiola als auch Jogi Löw, lassen natürlich auch einen Fußball spielen, der mir entgegenkommt.

Pep Guardiola hat mal gesagt, er sei vor allem wegen Ihnen und Philipp Lahm zum FC Bayern gekommen.

Bei meinem riskanten Spiel ist es wichtig, dass ich diesen extremen Rückhalt beim Trainer spüre. Das hilft mir, auf dem Feld die richtigen Entscheidungen zu treffen. Peps Philosophie ist gut für mein Torwartspiel, und mit diesem Selbstvertrauen und dieser Sicherheit gehe ich dann auch immer zur Nationalmannschaft.

War 2014 nur Ihr erfolgreichstes Jahr - oder auch Ihr bestes? Waren Sie 2014 der beste Manuel Neuer, den es bisher gab?

So wie ich das Torwartspiel interpretiere, ist Erfahrung ein zentraler Faktor. In meinem Spiel geht es ständig um Risikoabwägung, wann komme ich raus, wann bleibe ich drin, und da bringt mich jedes Spiel auf hohem Niveau weiter. Deshalb, auch mit den Erfahrungen der WM, war 2014 vielleicht mein bestes Jahr. Ich habe wieder neue Situationen erlebt, ich habe wieder gelernt, neue Situationen einzuschätzen.

Hatten Sie 2014 eine Lieblingsparade?

Eher eine Lieblingsszene: Das war der Schlusspfiff des WM-Finales.

Keine Szene aus dem inzwischen legendären Achtelfinal-Spiel gegen Algerien?

Klar, dieses Spiel war außergewöhnlich, weil es mehr Libero-Aktionen von mir gab als sonst. Das hatte ich in der Häufigkeit auch noch nicht erlebt, aber überrascht hat das vor allem jene Leute aus anderen Ländern, die mich auf der Plattform WM das erste Mal gesehen haben. Die Leute in Deutschland wissen ja, wie ich spiele. Ich habe das nicht bei der WM erfunden.

Wenn Sie nun unterm Tannenbaum Rückschau halten: Kommt Ihnen dann automatisch Algerien in den Sinn oder eher eine unauffällige Szene, an die vielleicht nur Sie sich erinnern?

Na, mir würden schon ein paar Szenen einfallen, bei denen ich mich mal wieder selber in die Bredouille gebracht habe. Ich setze mich ja immer selber unter Druck mit meinen Aktionen, aber ich mache das nicht für mich oder weil das so toll aussieht. Ich hab' da eher so einen Helfer- Instinkt, ich glaube, dass der Mannschaft das in dem Moment gut tut. Aber wenn Sie so fragen: Eine Szene hab' ich doch vor Augen, aus dem Brasilien-Spiel, die hat kaum jemand mitbekommen.

Eine Szene, die keiner mitbekommen hat? Im Halbfinale einer Fußball-WM?

Ja, komisch, das müssen Millionen Menschen gesehen haben, aber es hat mich nie jemand drauf angesprochen.

Was war das für eine Szene?

Ich bin nach rechts raus gesprintet, um einen brasilianischen Angriff abzulaufen, Basti Schweinsteiger hat innen das Tor abgesichert. Ich hab' den Ball ins Aus gehen lassen, und dann hat Basti den Abstoß ausgeführt und zu mir raus gespielt. Ich stand rechts außerhalb des Strafraums.

Das heißt: Schweinsteiger war Torwart, Neuer war Rechtsverteidiger.

Ja, genau. So eine Szene hab' ich auch noch nie erlebt, das war nachträglich gesehen schon ein bisschen prickelnd. Ist aber gut gegangen.

Sie haben in Mainz gerade erst das vierte Gegentor der Vorrunde kassiert. Haben Sie die Gegentore noch alle drauf?

So viele sind es ja nicht.

Zählen Sie sie doch mal auf.

Am ersten Spieltag war's ein Schuss von Olic in den Winkel, dann ein Handtor von Benny Höwedes . . .

. . . ein Handtor?

Der Ball ist ihm an die Hand geprallt, und dann hat er ihn irgendwie reingestochert. Dann noch ein Kopfball von Marco Reus und jetzt in Mainz der Schuss von Soto.

Nach guter, alter Torwartlogik sagen Sie wahrscheinlich: unhaltbar.

(la cht) Absolut. Alle.

Wie sehr interessiert Sie als Torwart ein möglicher Gegentor-Rekord?

Man guckt mit einem Auge hin, aber das wäre ja kein Rekord für mich, sondern einer fürs Team. Aber klar, wenn man in der Vorrunde so wenige Tore kassiert, dann sollte man da schon dran bleiben.

Erst Champions-League-Sieger, dann Weltmeister und dann fast keine Gegentore mehr - man hat immer häufiger das Gefühl, dass die Stürmer allmählich Angst vor Ihnen haben. Bekommen Sie das mit?

Nach dem Spiel kommt kein Stürmer zu mir und sagt: Du, ich hatte heute Angst. Und auch beim DFB werde ich bestimmt nicht die Spieler von Dortmund oder Schalke fragen, ob sie Angst vor mir haben. Aber dass die Stürmer inzwischen ein bisschen Respekt haben, das könnte schon sein.

Aus dem WM-Finale sind zwei Duelle von Ihnen mit dem argentinischen Stürmer Gonzalo Higuaín in Erinnerung. Ihre wuchtige Faustattacke außerhalb des Strafraums ist inzwischen berühmt; weniger bekannt ist die Szene, wie Higuaín frei vor Ihnen steht und verzieht. Die allgemeine Deutung war hinterher: Der Higuaín wusste, er muss es gegen Neuer besonders gut machen, und deshalb hat er's besonders schlecht gemacht. Können Sie mit solchen Deutungen etwas anfangen?

Kann sein, dass es so ist, aber ich weiß es ja nicht. Im Spiel nimmt man das zumindest nicht so wahr, da müssten Sie wirklich Higuaín selber fragen.

Aber allein, dass es die Debatte gibt, nützt Ihnen.

Das stimmt. Wir können das gerne weiter diskutieren.

Seit dem Algerien-Spiel gelten Sie nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit als der modernste aller Torhüter, als eine Art elfter Feldspieler . . .

. . . ja, aber ich muss noch mal sagen, dass ich diese Art von Spiel nicht erfunden habe. Der Holländer Edwin van der Sar hat ja schon früh so gespielt, an ihm habe ich mich als jugendlicher Torwart auch orientiert, genauso wie an Jens Lehmann.

Der bei Schalke das Tor hütete, während Sie als Balljunge hinterm Tor standen.

Jens war auch schon ein ziemlich moderner Torwart, ich hatte diesen Stil als Balljunge sozusagen direkt vor Augen.

Als Lehmann-Anhänger konnten Sie aber unmöglich für Oliver Kahn sein, oder?

Doch, das geht. Kahn hatte einen anderen Torwartstil, aber was Ehrgeiz und Mentalität anbelangt, war er auch ein Vorbild.

Können Sie sich noch an das WM-Finale 2002 erinnern, Deutschland gegen Brasilien, an Kahns Fehler gegen Ronaldo?

Klar, da war ich 16 und saß im Deutschland-Trikot im Wohnzimmer unseres Klassenlehrers und war traurig.

Ihres Klassenlehrers?

Ja, von unserem Fußballgymnasium. Ein Mitspieler war auch noch dabei.

Vor dem WM-Finale in diesem Sommer haben wir Journalisten Ihnen ja ständig die deutsche Torwarthistorie unter die Nase gerieben: dass Toni Schumacher 1986 und Oliver Kahn 2002 überragende Turniere gespielt haben, um dann im Endspiel entscheidend zu patzen.

Ich habe mich bei der WM nicht so viel im Internet rumgetrieben, ich habe das nicht gelesen. Und das mit Toni Schumacher wusste ich zum Beispiel gar nicht.

Aber Sie hätten sich auch vom diesem Wissen nicht irritieren lassen, oder?

Bei einer WM haben Sie keine Zeit für so was. Training, Abflug nach Rio, Abschlusstraining, dann Spielvorbereitung und Spiel, da steckt man so im Tunnel und seinen Automatismen drin, dass man nicht an die Geschichte denkt.

Oliver Kahn stand im Jahr 2002 auch mal unter den letzten Dreien bei der Wahl zum Weltfußballer, trotz seines Fehlers im WM-Finale. Sie haben im WM-Finale keinen Fehler gemacht, also müssten Sie gewinnen, oder?

( lacht) Ich weiß nicht, ob diese Logik funktioniert . . . Es ist mir schon bewusst, dass es was Außergewöhnliches ist, dass es ein Torwart neben Cristiano Ronaldo und Lionel Messi auf die große Bühne geschafft hat. Das ist eine Ehre für mich, ich bin da auch stolz drauf.

So wie Sie Ihr Torwartspiel interpretieren, ist es eigentlich nur logisch, dass Sie die Bühne jetzt mit Feldspielern teilen.

Ich sehe mich jedenfalls nicht mehr als reinen Torwart.

Wie würden Sie sich bezeichnen?

Ich bin ein mitspielender Torwart.

Haben Sie das Gefühl, dass die Torwartbranche Ihnen bei der Weltfußballer-Wahl die Daumen drückt? Sie könnten diese Außenseiter-Position endlich mal gesellschaftsfähig machen.

Ach, ich finde, Torwart zu sein, hat schon seine Vorteile, man muss es halt mögen. Man muss schon immer noch speziell ticken, um sich das anzutun. Aber Torwart zu sein, ist heute sicher keine Strafe mehr, vorausgesetzt, man spielt nicht gerade auf schwarzer Asche. So wie wir heute mitspielen, wird die Position immer attraktiver.

Den Weltfußballer wählen die Nationaltrainer und die Nationalmannschafts- Kapitäne. Haben Sie Jogi Löw mal gefragt, wen er gewählt hat?

Nein. Aber bei Basti Schweinsteiger wäre ich schon beleidigt, wenn er mich nicht gewählt hätte (lacht).

Unter uns: Wie schätzen Sie Ihre Chancen bei der Wahl ein?

Sagen wir so: Favorit bin ich sicher nicht. Die anderen beiden sind weltweite Marken, die haben da sicher Vorteile.

Sie können den WM-Titel in die Wertung bringen, Cristiano Ronaldo hat dagegen die Champions League gewonnen. Werden Ihnen unterm Christbaum auch noch mal die vier Gegentore einfallen, die Sie im Champions-League-Halbfinale gegen Real Madrid kassiert haben? Das waren in einem einzigen Rückspiel so viele Tore wie in der ganzen Bundesliga-Vorrunde.

Ich trauere da nicht mehr nach, falls Sie das meinen. Real war über beide Spiele die bessere Mannschaft und hat verdient den Titel gewonnen. Aber Sie wissen ja, wo in dieser Saison das Champions-League- Finale stattfindet.

In Berlin.

2012 haben wir es verpasst, in der eigenen Stadt den Titel zu gewinnen, jetzt wollen wir den Titel im eigenen Land holen. Die Champions League ist mein großes Ziel fürs nächste Jahr.

Spielt der FC Bayern souveräner als noch vor einem Jahr?

Wir spielen noch selbstverständlicher nach der Idee unseres Trainers, völlig unabhängig davon, wer gerade verletzt ist oder welches System wir gerade wählen. Pep Guardiola hat uns den Fußball neu erklärt, das muss man schon so sagen.

Im Jahr 2015 ist die Champions League das Größte, was Sie gewinnen können, im Jahr 2016 kommt die Europameisterschaft. Falls Sie diesen Titel auch noch holen: Wäre dann eine Philipp-Lahm-Entscheidung denkbar, ein Nationalmannschafts-Rücktritt mit dann 30 Jahren?

So eine Entscheidung habe ich im Moment überhaupt nicht auf dem Schirm. Sie haben vorhin ja selbst gesagt, dass ich eigentlich jedes Spiel spielen will, und das gilt natürlich auch in diesem Fall. Solange ich die Nummer eins bin, werde ich das deutsche Tor hüten.

© SZ vom 24.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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