Manuel Neuer beim FC Bayern:So sehr Kapitän wie seit Jahren nicht mehr

Manuel Neuer 1 (FC Bayern Muenchen) staucht seine Mitspieler zusammen, FC Bayern Muenchen vs. 1. FC Union Berlin, Fussba; Manuel Neuer, FC Bayern

Musste seine Mannschaft mit einem Wutanfall aufrütteln: Bayern-Torwart Manuel Neuer.

(Foto: imago images/kolbert-press)

Von Benedikt Warmbrunn

Manuel Neuer hat in seiner längst denkwürdigen Karriere einige Bälle gehalten, die nach allen Gesetzen der Physik nicht zu halten waren: mit der Ferse, mit den Fingerkuppen; mit einem Arm, der schneller herausgeschossen kam als eine Rakete von der Startrampe losfliegt; mit einem Oberkörper, den er aufblasen kann wie ein Frosch seine Backen; mit Ausflügen weit aus dem Strafraum heraus. Einmal hat Manuel Neuer sogar ein Tor mit einem Flugkopfball in der gegnerischen Spielfeldhälfte verhindert. Und weil er all diese Bälle abgewehrt hat, weiß der Torwart Neuer, wie sich das anfühlt, wenn das ganze Stadion erst ungläubig schweigt und dann begeistert applaudiert.

Selbst für einen so überroutinierten Mann wie Neuer muss es sich jedoch gut anfühlen, diese Form der kollektiven Zuneigung für andere Verdienste zu spüren.

Am Samstag, im Heimspiel des FC Bayern gegen Union Berlin, läuft die 51. Minute, als die gesamte Arena kurz staunt, dann applaudieren alle Zuschauer, womöglich sogar einige der 7500 anwesenden Union-Sympathisanten. Neuer jedoch hatte nicht einen Ball gehalten, er hat nicht einmal durch seinen aufblasbaren Oberkörper das Tor verkleinert, wie die Torhüter sagen. Der Ball war auch so weit am Tor vorbeigeflogen. In dieser 51. Minute, der Favorit aus München führt 1:0, applaudiert die Arena Manuel Neuer, weil dieser einen kolossalen Wutanfall hatte.

Nach einer Flanke der Gäste ins Toraus sprintete Neuer nach vorne, er warf beide Raketenarme zur Seite, brüllte, klatschte kräftig in die Torwartpranken, brüllte, wieder die Arme zur Seite, er blies den Oberkörper auf, ballte die Fäuste, ruderte weiter mit seinen Raketenarmen durch die Münchner Herbstluft, und er brüllte und brüllte und brüllte. Dem Kapitän Neuer wird ja manchmal vorgeworfen, dass er zu diplomatisch sei, immer will er alle auf seiner Seite wissen. Am Samstagmittag aber war Neuer so sehr Kapitän wie seit vielen Jahren nicht mehr. Er war dieser laute, dominante, undiplomatische Kapitän allerdings auch, weil seine Mannschaft ihn genau als diese Figur brauchte.

Wie wackelig die Bayern zurzeit sind, ließ sich an Neuers Schimpfattacke ablesen

Eine Minute nach seinem Wutanfall applaudierte Neuer schon wieder, als Kingsley Coman den Ball an der Mittellinie ins Seitenaus gegrätscht hatte, wohl nur zufällig klatschte Neuer dabei im Takt zum "Steht-auf-wenn-ihr-Bayern-seid" der Fans. Zwei Minuten nach dem Wutanfall des Kapitäns erzielte Robert Lewandowski das Münchner 2:0. Vier Minuten nach seiner Brülltirade reagierte Neuer mit einem prächtigen Reflex nach einem Kopfball aus kurzer Distanz. Sechs Minuten nach seinem Wutanfall parierte er einen Elfmeter von Sebastian Andersson. 42 Minuten inklusive Nachspielzeit nach Neuers Wutanfall hatte der FC Bayern 2:1 gewonnen. Das Team hatte dabei einen kleinen Schritt zurück zu mehr Ruhe gemacht. Doch wie wackelig das Gerüst zurzeit ist, ließ sich auch an Neuers Schimpfattacke ablesen.

"Es ging um eine Situation, in der wir uns taktisch nicht clever verhalten haben", sagte Neuer später übersouverän, "das musste ich ansprechen." Thomas Müller sagte: "Das sind solche Momente, die an frühere, glorreiche Zeiten erinnern. Das gehört dazu, man versucht sich zu pushen." Es sei wichtig, "dass alle scharf sind".

Neuer tritt als Diplomat auf

Dass im Spiel der Bayern zurzeit ein bisschen Schärfe fehlt, war auch gegen Union nicht zu übersehen. Nach zuletzt einer Niederlage und einem Unentschieden in der Liga gewann die Mannschaft wieder, der Sieg war über den Großteil der Partie nicht in Gefahr, selbst nach dem späten Anschlusstreffer durch Sebastian Polter (86.) nicht. "Es ist, wie es ist", sagte Trainer Niko Kovac, der nach den vergangenen turbulenten Tagen offenbar findet, dass es okay ist, mit einem routinierten, aber nicht berauschenden Nachmittag wieder zurück zur Ruhe zu kommen.

Dass es so ist, wie es ist, heißt allerdings auch, dass weiter viel Potenzial im Spiel der Münchner nicht abgerufen wird. Wieder vergaben die Spieler zahlreiche Chancen, gerade in der Schlussphase. Wieder führte ein individueller Fehler zum Gegentor, in diesem Fall ein ungestümes Foul von Benjamin Pavard zum zweiten Gäste-Elfmeter, den Polter verwandelte. Und wieder war das Offensivspiel lange Zeit schwerfällig. Das erste Tor erzielte Pavard mit einem technisch feinen Dropkick nach einer unglücklichen Faustabwehr von Union-Torwart Rafael Gikiewicz (13.). Lewandowski traf nach einem Doppelpass mit der Schulter des Berliners Felix Kroos. "Wir haben nicht geglänzt", sagte Neuer.

Der Torwart war in der vergangenen Woche der oberste Kritiker, und in Tagen, in denen es für Trainer Kovac etwas unangenehmer wurde, nahm Neuer besonders die Mannschaft in die Pflicht. Er hatte ihr nach dem Unentschieden in Augsburg Lässigkeit vorgeworfen, nach dem knappen Sieg in Piräus hatte er gesagt, dass sich die Spieler "an die eigene Nase fassen" müssten. Gerade der Diplomat Neuer weiß, warum er solche Sätze sagt. Bei den größten Erfolgen seiner Karriere, dem Titel in der Champions League 2013 sowie dem bei der WM 2014, war auch eine innermannschaftliche Dynamik die große Stärke. Gegen Union hatte Kovac immerhin so offensiv aufgestellt, wie es sich manche in dem Team häufiger wünschen, mit Müller und Philippe Coutinho im Zentrum, mit dem Außenstürmer Alphonso Davies als Linksverteidiger; trotz der zahlreichen verletzten Defensivkräfte saßen auch weiterhin gesunde Abwehrspieler auf der Bank, darunter Linksverteidiger David Alaba.

Im Sinne der mannschaftlichen Geschlossenheit dürfte es Neuer auch gefallen haben, was Müller nach dem Spiel sagte. Zuletzt war immer über dessen möglichen Abschied spekuliert worden, am Samstag aber sagte Müller: "Ich habe gehört, ab Montag wird das Wetter anders. Das heißt: Die Luftveränderung habe ich auch hier."

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