Süddeutsche Zeitung

Fanproteste und Platzsturm:Rebellion in Manchester

Die Fans wollen die Man-United-Besitzerfamilie Glazer aus der Stadt jagen - und verhindern, dass das Prestigeduell gegen Liverpool angepfiffen werden kann. Was als friedlicher Aufstand geplant war, endet im Chaos.

Von Sven Haist, London

Erstmals seit Beginn der Pandemie vor 14 Monaten strömten massenhaft Fans des Manchester United Football Club am Sonntagnachmittag zum Old Trafford, der zweitgrößten Arena auf der Insel. Aber nicht, um das Duell mit dem Erzrivalen FC Liverpool im Stadion anzusehen (was ohnehin nicht erlaubt gewesen wäre), sondern um zu verhindern, dass es überhaupt stattfindet. In einem vierstündigen Protest forderten etwa 5000 Menschen mit wütenden Sprechgesängen und Plakaten die gänzlich unbeliebte US-amerikanische Familie Glazer auf, ihre Anteile am Rekordmeister nach 16 Jahren zu verkaufen.

Der friedlich geplante und letztlich ins Chaos ausartende Aufstand begann um 13 Uhr Ortszeit, als sich die Leute vor dem Stadion versammelten. Früh war abzusehen gewesen, dass die anwesenden Sicherheitskräfte einem möglichen Ansturm nicht gewachsen sein würden. Eine Stunde später durchbrachen dann rund 300 Anhänger (als Kommando wurden wohl zwei Feuerwerkskörper gezündet) die Barrieren und verschafften sich verbotenerweise Zugang zum Spielfeld, ein paar davon offenbar auch in die leere Mannschaftskabine.

Auf dem Platz ging die Rebellion weiter: Neben ausgerissenen Eckfahnen und umgeworfenen Kamerastativen wurden Pyrofackeln in den grün-goldenen Ursprungsfarben des Klubs gezündet, einige flogen bedrohlich in Richtung des Sky-Studios. Mit der Zeit gelang es, die Protestwelle gewaltlos zurückzudrängen. Anders verhielt es sich vor der Arena: Zwei Polizisten sollen bei Zusammenstößen verletzt worden sein.

Parallel belagerten weitere Gruppierungen die Luxusunterkunft "The Lowry" in der Innenstadt, in der sich das Team um Trainer Ole Gunnar Solskjær auf das Heimspiel gegen Liverpool vorbereitete. Nachdem die Polizei eine Spielabsage ankündigt hatte, sofern der Weg zu den Mannschaftsbussen nicht bald freigeräumt werde, verdichtete sich die Fanblockade nochmals - bis die anfangs auf unbestimmte Zeit verlegte Partie gegen 17.30 Uhr, eine Stunde nach dem eigentlichen Spielbeginn, offiziell abgesagt wurde. Zuvor hatte sich die Premier League noch die Blöße gegeben, über ihre App die Aufstellungen beider Vereine zu verkünden - so, als könnte gleich gespielt werden, obwohl an ein Spiel längst nicht mehr zu denken war.

Die Fans wollen die Glazers am liebsten aus der Stadt jagen

In der Historie der 1992 gegründeten Premier League ist es bisher nicht vorgekommen, dass eine Partie wegen Fanprotesten abgesetzt werden musste, noch dazu eine dieser Größenordnung. In einem Statement verurteilte der Dachverband die "nicht zu rechtfertigenden Aktionen" einer Minderheit. Der Guardian kommentierte dagegen, dass der Protest nun sicherlich "als eine Art gewalttätige Aufruhr" umgedeutet werde, obwohl hinter "diesem Akt der Verzweiflung die tiefe Sehnsucht der abgehängten, ausgeschlossenen Fans stecke, einfach wieder etwas zu fühlen". Mit ihrer Reaktion habe die Liga die Entfremdung und Entmündigung "auf den Punkt gebracht. Indem sie sich fest auf die Seite der Rechteinhaber und der besitzenden Klasse stellte, erinnerte sie daran, wo die Macht derzeit liegt und wohl immer gelegen ist."

Mit dem Rückenwind durch die Zurückstellung des Projekts Superliga, mit dem das Gründungsmitglied United vor zwei Wochen in Manchester das Blatt beim Anhang endgültig überreizte, wird seitdem versucht, die sechs Nachfahren des 2014 verstorbenen Malcolm Glazer mit fast allen Mitteln aus dem Klub zu jagen. Für dieses Vorhaben statteten einige dem Verein bereits einen unerlaubten Besuch auf dem Trainingsgelände ab und legten nun vor den Augen der Welt nach - mit der Verhinderung des prestigeträchtigsten Duells im Inselfußball: Manchester United (20 Ligatitel) gegen Liverpool (19). Die Glazers mögen zwar in der Lage sein, die grün-goldenen Schals zu ignorieren, schrieben die Manchester Evening News, aber wenn "ihre Geldkuh nicht mehr zum Melken" komme, sei das eine ganz andere Sache. Denn ein Klub, der nicht spielt, ist wie ein Ball, der keine Luft hat. Und "wann" in Zukunft gespielt werde, so lautete die Drohung der Fans, würden sie entscheiden.

Emotional erschwerend kommt für die Anhängerschaft hinzu, dass das eigene Auflehnen gegen die Klubführung mit dem Höhenflug des Stadtnachbarn City zusammenfällt. Der lange belächelte Rivale steht vier Spieltage vor Saisonende als Tabellenführer unmittelbar vor dem Gewinn der dritten Meisterschaft in vier Jahren. Bei 13 Punkten Vorsprung aufs zweitplatzierte United wäre das bereits so gekommen, wenn Liverpool das abgesagte Spiel im Old Trafford gewonnen hätte. Am Dienstag bietet sich ManCity sogar gegen Paris Saint-Germain - in der Auseinandersetzung der aus Abu Dhabi und Katar mit reichlich Petrodollars alimentierten Vereine (im Volksmund: "Oilchester vs OilSG") - die Chance, erstmals in ein Finale der Champions League einzuziehen. Zu verteidigen ist ein 2:1 aus dem Hinspiel, das PSG mit den Offensivjuwelen Neymar und Kylian Mbappé zwingt, mit mindestens zwei eigenen Toren in Manchester gewinnen zu müssen.

Seit Fergusons Rücktritt hat der Klub rund eine Milliarde Euro an Transferverlust erwirtschaftet

Spätestens mit der Verpflichtung des Startrainers Pep Guardiola im Sommer 2016 hat City im Duell mit United die Kräfteverhältnisse umgekehrt. Während Scheich Mansour offensichtlich so viel Geld wie möglich in seinen Verein fließen lässt, nehmen die Glazers augenscheinlich so viel Geld wie möglich aus ihrem heraus. Bei City steckt wohl Hoffnung auf gute PR dahinter, bei United eher Motive persönlicher Bereicherung - moralisch fragwürdig dürfte beides sein. Quasi als erste Amtshandlung 2005 legten die Glazers circa 520 des auf 790 Millionen Pfund geschätzten Kaufpreises in einem sogenannten Leveraged Buyout auf ihren Verein um. Wie das Sportmagazin The Athletic berichtet, soll die Familie den Klub inzwischen schätzungsweise 1,5 Milliarden Pfund gekostet haben, die sich aus Zinsen, Schulden und Dividenden errechnen.

Trotzdem liegen die mittlerweile acht Jahre ohne Meistertitel vorwiegend nicht an fehlenden Investitionen in den Kader. Nach wie vor unterhält United eines der weltweit kostspieligsten Aufgebote und hat seit dem Rücktritt des Ewigkeitstrainers Sir Alex Ferguson 2013 rund eine Milliarde Euro an Transferverlust in Kauf genommen. Im Ranking der teuersten Premier-League-Zugänge nimmt United die vorderen drei Plätze ein: Paul Pogba (105 Millionen), Harry Maguire (87 Mio.) und Romelu Lukaku (84,7 Mio.). Auch an renommierten Trainern (Louis van Gaal, José Mourinho) wurde nicht gespart. Zu stemmen waren diese Personalien in erster Linie durch die Entwicklung des Vereins zu einem der Umsatzriesen der Branche.

Wie es jetzt nach dem Protest bei United weitergeht, ist ebenso offen wie beim FC Arsenal, der mit Stan Kroenke auch einem US-amerikanischen Milliardär untersteht, den zu vertreiben die Fans seit Jahren auf ähnliche Weise versuchen. Bislang hat Kroenke stets hartnäckig an seinem Investment festgehalten - und dasselbe scheint für die Glazers zu gelten. Ein Pessimist könnte anmerken, dass es wohl weit hergeholt sei, zu erwarten, "ein paar Jungs" könnten mit Liedern und Spruchbändern die Welt zum Besseren verändern, bilanzierte der Guardian. Aber ein Optimist würde entgegnen, dass dies möglicherweise "das Einzige" sei, was jemals etwas verändert habe.

Fußball wurde übrigens doch noch kurz gespielt im Old Trafford: Ein Fan schnappte sich einen herumliegenden Ball und stellte Wayne Rooneys berühmten Fallrückzieher nach - zum 2:1-Siegtor für United im Manchester-Derby 2011.

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SZ/ebc/sjo
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