Obwohl die Zahl deutscher Fußballspieler in England in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat, ist es immer noch eine Seltenheit, dass einer von ihnen als Spielführer seinen Verein repräsentiert. Gerade einmal zehn Deutsche (Michael Ballack, Emre Can, Pascal Groß, Ilkay Gündogan, Robert Huth, Robin Koch, Per Mertesacker, Mesut Özil, Christopher Schindler und Christoph Zimmermann) haben in der Premier League ihre Klubs als Kapitän angeführt. Nur zwei davon, Mertesacker beim FC Arsenal und Schindler bei Huddersfield Town, wurden dauerhaft für dieses Amt nominiert - bis in dieser Saison in Ilkay Gündogan ein dritter Deutscher beim Manchester City Football Club hinzukam.
Gündogan darf stolz auf die Wahl sein, schließlich wurde er in der an Klassespielern reichen City-Elf nicht von Trainer Pep Guardiola zum Kapitän ernannt, sondern von seinen Mitspielern nominiert - noch vor Stellvertreter Kevin De Bruyne. Gündogan ist der vierte City-Spielführer in fünf Jahren, er folgte auf Vincent Kompany, David Silva und Fernandinho, die sich alle im fortgeschrittenen Fußballalter aus Manchester verabschiedeten. Schon zuvor gehörte Gündogan zum Mannschaftsrat, jetzt könnte er sogar der erste Deutsche werden, der seinen Verein zur Premier-League-Meisterschaft führt. Nach dem souveränen 4:1 beim FC Southampton am Samstag beträgt Citys Rückstand auf Tabellenführer Arsenal nur noch sechs Punkte.
Bisher hat kein aktueller City-Spieler die Champions League gewonnen - Gündogan gelang immerhin schon ein Finaltor
Wie der Klub selbst hat bisher kein aktueller Profi aus seinen Reihen die Champions League gewonnen, das gelang nur Trainer Guardiola zweimal (2009 und 2011) in seiner Zeit beim FC Barcelona. Am nächsten dran am Henkelpott war Gündogan, der 2021 ein Finale mit City gegen den FC Chelsea (0:1) verlor und auch eines 2013 mit Dortmund gegen den FC Bayern (1:2). Damals verwandelte er einen Elfmeter zum zwischenzeitlichen Ausgleich. Nun lastet auf Gündogan beim Wiedersehen mit den Münchnern im Viertelfinal-Hinspiel der Königsklasse in Manchester am Dienstag sogar die Verantwortung eines ganzen Vereins. Die Zeitung Manchester Evening News bezeichnete ihn kürzlich als Guardiolas "treuesten Leutnant".
Pep Guardiola:Er will es unbedingt
Der Katalane ist besessen davon, mit Manchester City die Champions League zu gewinnen. Aber gerade vor dem Duell mit Thomas Tuchel droht ihm eine nur allzu bekannte Gefahr: die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn.
Wer wissen will, wann die Entwicklung des lange unterschätzten Mittelfeldprofis zur Führungsfigur des Milliardenprojekts in Manchester einen entscheidenden Schub erhielt, der muss mit Dieter Hecking sprechen. Und darüber, wie Gündogan im Winter 2009, auf seiner ersten Profistation in Nürnberg, als damals 18-Jähriger für sich und seine Teamkameraden Verantwortung übernahm. Am Telefon erzählt Hecking, damals wie heute Trainer des 1. FC Nürnberg, dass "das Herausragendste" an Gündogan gewesen sei, mit welchem Pflichtbewusstsein er nebenher sein Abitur vorantrieb. Er sei in seinen Zielen "total klar" und im Team durch seine Qualität "schnell hoch angesehen" gewesen. Im Vergleich zu Gleichaltrigen habe er so "einen Vorsprung in der Hierarchie" gehabt, sagt Hecking.
Von dieser Reife profitierte ebenso Julian Schieber, der mit Gündogan einst in Nürnberg und Dortmund zusammenspielte und weiterhin befreundet ist. Im Gespräch mit der SZ sieht Schieber in Gündogan "den wichtigsten Faktor" für seine Eingewöhnung in beiden Vereinen, obwohl dieser anderthalb Jahre jünger gewesen sei als er selbst. "Ilkay" habe "mit Kontakten" geholfen und sei generell "mit seiner ruhigen, geselligen, und herzlichen Art" jemand, der Menschen "zusammenbringe". Bei ihm könne man "zu jeder Uhrzeit" an der Haustüre klingen und er würde aufmachen.
Gündogan kam nach Verletzungen stets zurück - und sicherte City vergangene Saison am letzten Spieltag den Titel
Durch diese menschlichen Stärken habe Gündogan nie Probleme mit Teamkollegen gehabt. Er könne sich vielmehr in sie "hineinversetzen", was ihn zu einem sehr geeigneten Kapitän mache, sagt Schieber. Hervorzuheben sei auch "die Bodenständigkeit" seines prominenten Weggefährten, die ihm in dessen Elternhaus vorgelebt worden sei. In der Anfangszeit sei "meist ein Familienmitglied" in seiner Nähe gewesen, damit er sich wohlfühle. Mittlerweile hat Gündogan seine eigene Familie in Manchester, vor knapp einem Monat ist er erstmals Vater geworden.
Gündogans dezente Teamführung, das seriöse Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit und auch sein Wille, sich nach zahlreichen Verletzungen immer wieder zurückzuarbeiten, erinnern an Citys langjährigen Vorzeigekapitän Kompany. Und so ähnlich wie damals der Belgier, der das Meisterschaftsfinale 2019 für City mit einem Gewaltschuss entschied, trug Gündogan am letzten Spieltag der Vorsaison im Fernduell mit Liverpool mit einem Doppelpack innerhalb von fünf Minuten maßgeblich zum Ligatitel bei - dem vierten in fünf Jahren.
Vincent Kompany:"Der einzige Feind ist Bequemlichkeit"
Als Kapitän gestaltete Vincent Kompany den Aufstieg von ManCity zum Milliardenprojekt mit. Als Trainer strebt er mit dem FC Burnley in die Premier League. Ein Gespräch über die Klarheit von Pep Guardiola, die Dominanz des englischen Fußballs - und eine schwierige Kindheit in Brüssel.
Im Fußball entstehe Erfolg meist in der Teamkabine, glaubt Stürmer Schieber, dort müsse ein Kapitän vor allem Zusammenhalt, Verlässlichkeit und Loyalität demonstrieren. Eigenschaften, die er bei Gündogan ebenfalls sieht. Dieser sei keiner, der "auf den Putz" haue, sondern jemand, der Dinge durch "Intelligenz und Überlegtheit" kläre. Und Trainer Hecking glaubt, dass sein früherer Spieler Gündogan "die Interessen der Mannschaft" bei City sehr gut vertrete, weil er "kein Alleinherrscher" sei und sich "mit mehreren Spielern" zusammenschließe.
Der Vertrag Gündogans bei City läuft zum Saisonende aus. Trotz intensiver Bemühungen ist es dem Verein bisher nicht gelungen, den Kontrakt zu verlängern. Zu den Mitbewerbern gehört auch der FC Barcelona. Bei dem wohl letzten hoch dotierten Spielervertrag seiner Karriere möchte Gündogan offensichtlich sicherstellen, dass City nicht nur mittelfristig mit ihm plant, sondern er gleichfalls - anders als im Vorjahr - in den wichtigen Saisonspielen in der Startelf stehen wird. Kürzlich betonte Guardiola, er wolle seinen Kapitän "unbedingt halten", allein wegen dessen makellosen Verhaltens in den gemeinsamen sieben Jahren. Ganz gleich wie sich Gündogan entscheiden werde, sagte Guardiola, würde sich an seinem "paradiesischen" Ansehen bei City nichts ändern - nachdem, was er geleistet habe. Der nach Titelgewinnen erfolgreichste Deutsche in der Premier League ist Ilkay Gündogan ohnehin schon längst.