Die deutsche Medaillenhoffnung trägt einen Rennanzug der anderen Art. Ihr roter Einteiler ist dick gefüttert, warm sieht er aus, windschnittig eher weniger. Die ein oder andere Zehntelsekunde dürfte sie dieser Rennanzug kosten, doch sie trägt ihn ganz bewusst. Es ist ja nicht irgendein Kleidungsstück, sagt sie. Mutter hat ihn schon getragen. Mutter, die ihren Glauben einst verheimlichte, weil sie es musste. Und die ihrer Tochter riet: Sag in der Schule besser nicht, dass du jüdisch bist.
400 Menschen haben sich in diesen Tagen für eine Woche ins oberbayerische Ruhpolding begeben, um dort nach 87 Jahren Pause wieder jüdische Winterspiele abzuhalten. Diana Goldberg, 27, ist eine von ihnen. Die Münchnerin geht bei den Ski-Alpinisten im Slalom, Parallelslalom und Riesenslalom an den Start, drei der insgesamt 16 Disziplinen in sieben Sportarten. Unter den Teilnehmenden sind Profis, Semiprofessionelle, die meisten sind Hobbysportler wie Goldberg. Es geht um Bestzeiten, Medaillen. Und doch ist es kein Zufall, dass Diana Goldberg und viele andere nicht Rennkluft tragen, sondern einfache Skianzüge.
Donnerstagnachmittag, Tag vier bei den Makkabi Winter Games, Ruhetag für Diana Goldberg. Sie kommt gerade vom Regenerationsschwimmen und hat noch ihren Bademantel an. Minuten später kehrt sie im Skianzug wieder zurück und steigt in eine Zier-Gondel vor der Hotelrezeption. Vor den Glasfenstern der Gondel hängen hölzerne Retro-Skier, drinnen sitzt nun eine Frau im Retro-Look. Die Vergangenheit lässt sich ja nicht einfach aus einer Gondel sperren. "Der Hass auf Juden zum Beispiel", sagt sie, "der ist teilweise immer noch da."
1933 in Polen richteten sie zum ersten Mal jüdische Winterspiele aus, 1936 in der damaligen Tschechoslowakischen Republik die bis dato letzten. Es folgten die Gräuel des Holocaust, sechs Millionen Juden wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Bei der Neuauflage - nun erstmals auf deutschem Boden - kann es deswegen natürlich nicht nur um sportliche Leistungen gehen. Es werde "eine historische Lücke geschlossen", hatte Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, bei der Eröffnungsfeier erklärt. "Die Makkabi-Winterspiele sind mehr als nur Sport, sie sind auch eine Feier jüdischer Kultur und jüdischer Identität. Makkabi verbindet Menschen über Grenzen hinweg, unabhängig von ihrer Herkunft und Religion", sagte Außenministerin Annalena Baerbock in einer Videobotschaft. Teilnehmen dürfen Juden und nicht jüdische Makkabi-Mitglieder. Die Spiele, das steht schon jetzt fest, sollen wiederholt werden.
Hochsicherheit? "Ich hoffe, dass wir das irgendwann nicht mehr brauchen."
Dem politisch geprägten Auftakt des Events ließen die Sportler Wettkämpfe folgen, bei denen vor allem ihre Flexibilität gefragt war. Der Ort Ruhpolding gilt als verlässliches Schneeloch, doch in diesen Tagen versiegen gar auf den Gipfeln des Chiemgaus die letzten weißen Flecken. Die Langläufer mussten ins 24 Kilometer entfernte Reit im Winkl umziehen, wo sie auf den Resten einer bräunlichen Loipe ihre Rennen austragen. Goldberg und ihre Alpin-Kollegen weichen gar ins zwei Stunden entfernte Kitzbühel aus. "Mit dem Wetter hatten wir echt Pech", sagt Alfi Goldenberg, Initiator der Spiele, Vizepräsident für Sport von Makkabi Deutschland. Über Diana Goldberg sagt er: "Sie ist eine unserer deutschen Medaillenhoffnungen."
Menschen aus 20 Nationen und fünf Kontinenten sind angereist, ein 18 Jahre alter Skifahrer aus Australien gilt als der exotischste Exot, 35 Stunden Anreise für eher australische Verhältnisse in Ruhpolding, so warm ist es hier. Immerhin, die Eiskunstläufer und Eisstockschützen können wie geplant in der Ruhpoldinger Halle antreten, die Bilder aus Kitzbühel werden per Livestream im Netz übertragen. Am Donnerstagabend, beim Langlaufsprint in Reit im Winkl, tanzen und singen Kinder mit einem Fanplakat von "Makkabi Suisse" am Streckenrand für den Schweizer "Didier". Etwas außerhalb des Scheinwerferlichts stehen zwei Polizeibusse.
Die Makkabi Winter Games sind Amateur-Spiele, gleichwohl handelt es sich um eine Hochsicherheitsveranstaltung. Polizisten sind an allen Austragungsorten gut sichtbar postiert. Von der Hotel-Gondel aus sind die Beamten vor dem Haupteingang des Hotels zu sehen. Goldbergs Stimme wird ernst, sie erzählt vom Anschlag von Halle 2019. Als ein bewaffneter Rechtsextremist in die dortige Synagoge einzudringen versuchte, waren Freunde von ihr im Gebäude. "Für mich war das super nah, weil es in Deutschland war und Leute in meinem Alter." In Halle waren 2019 am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur keine Polizisten postiert. In Ruhpolding nun schon, die ganze Woche, dem Vernehmen nach wurden keine Vorfälle gemeldet. Eine jüdische Veranstaltung unter Hochsicherheit? "Ich hoffe", sagt Goldberg, "dass wir das irgendwann nicht mehr brauchen."
Es geht den Initiatoren auch und vor allem um eine Botschaft. Nicht zuletzt darum sitzt Diana Goldberg nun im roten Skianzug in dieser Gondel, durch die in der Hotellobby kein Windhauch dringt. Ein bisserl warm sei der Anzug schon, meint Goldberg, aber es hat ja auch was auszusagen, dieses alte Textil. Eine kleine jüdische Geschichte in der großen Historie dieses Volkes.
Goldberg ist Sängerin, in Stuttgart geboren und in München aufgewachsen, ihre Eltern stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. "In ihrem Pass stand unter Nationalität nicht lettisch oder russisch, sondern Jude", erzählt Goldberg. Den jüdischen Glauben zu zelebrieren, war dort seinerzeit verboten. Während das Paar in der Wohnung Bar Mitzwa feierte, horchte ihr Vater an der Tür, ob Polizeipatrouillen in der Nähe waren. Den Eltern hätte Gefängnis gedroht, das haben sie ihr erzählt. "Meine Familie ist mit dieser Angst aufgewachsen."
Hinter den Türen der Gondel richten die Veranstalter für eine Musikveranstaltung her, die Ersten grooven auf der Tanzfläche, manche stapfen im Bademantel durch die Lobby, einige wenige tragen Kippa. Aus den Lautsprechern dringt gedämpfte Partymusik. Feiern, darum gehe es nicht unwesentlich, erklärt Goldberg, "um die Gemeinschaft".
Ein Mitschüler sagte zu ihr, sie solle in der Gaskammer duschen gehen
Am Abend werden in Ruhpolding Holocaust-Überlebende ihre Erinnerungen schildern. Und Goldberg lässt erahnen, warum solche Berichte so wichtig sind. Sie erzählt von ihrer Schulzeit, einiges hat sie ertragen. "Scheiß Jüdin" zu hören, tat weh, es kam öfter vor, mit der Zeit sei sie abgehärtet gewesen. Dann aber dieser Tag in der sechsten Klasse, ein Münchner Gymnasium, Kunstunterricht. Sie, die Elfjährige, war als Erste mit ihrer Arbeit fertig - wollte gehen, und bekam diesen Satz zu hören: Geh doch in der Gaskammer duschen. "An dem Tag haben mich meine Eltern von der Schule abgeholt, ich war zu fertig", sagt sie. Ihr Mitschüler bekam einen Direktoratsverweis und Sozialstunden, sagt sie, ein Entschuldigungsschreiben der Eltern folgte. "Ich hoffe, sie haben das Thema daheim besprochen."
Religion kann spalten - und vereinen. Es wird bisweilen darüber debattiert, welche der drei Säulen des Judentums - Land, Religion oder Volk - am wichtigsten ist. Goldberg würde sich sehr wahrscheinlich fürs Volk entscheiden. "Ich bin jetzt echt nicht superreligiös oder so", sagt sie. Sie hat an der Universität Initiativen gegründet, gemeinsam Programme mit christlichen und muslimischen Studenten geleitet, ähnlich wie nun bei ihrem Engagement für Makkabi Deutschland. "Religion", findet sie, "sollte wie ein Hobby betrachtet werden."
Ein Teilnehmer aus den USA fragte sie kürzlich, wie sie das aushalte, als Jüdin in Deutschland zu leben, im Land des einstigen Holocaust. "Es hat ein Wandel stattgefunden", sagt sie. Es lebe sich hier gut. Am Sonntag wird sie Silber im Slalom und Bronze im Parallelslalom gewinnen. Das Trauma ihrer Familie, sagt sie in diesem Moment, die Angst, "das will ich nicht weitertragen". Dann steht sie auf, nimmt ein Paar Carvingski aus dem Gondelhalter und trägt sie zur Ausgangstür.