Süddeutsche Zeitung

Magic Moments - EM 1972:Unsterblich dicke Strähnen

Unter der Regie von Günter Netzer wird die DFB-Elf 1972 in London zur Legende. Ihr revolutionärer Fußball lässt auch die Jugendlichen zu Hause glauben: Die Welt gehört uns.

Hans-Jürgen Jakobs

Es regnete in London, und in Deutschland, vor dem Fernseher, erwartete man nicht all zu viel von den eigenen Fußballern. Noch nie hatten Deutsche im altehrwürdigen Wembley-Stadion gewonnen. Und die Begeisterung der Weltmeisterschaft von 1970 in Mexiko war geschwunden.

Für uns Jugendliche war ein solcher Samstagfernsehabend mit der Nationalmannschaft ein Gewohnheitstermin - und eher ein Vorwand für eine improvisierte Bier-Salzstangen-Party. Doch dann sollte dieses Viertelfinalhinspiel der Europameisterschaft in London (die Endrunde der vier besten Mannschaften fand später in Belgien statt) zu einem unvergessenen Ereignis werden, mit einem deutschen Team, das an diesem Abend den einfachen Gesetzen der Kickerkunst entrückte. Nie mehr spielte - in der Erinnerung jedenfalls - eine deutsche Nationalmannschaft so gut wie an jenem 29. April 1972 im Londoner Wembley-Stadion.

Das lag wesentlich an einem Mann, der für seine Verhältnisse ungewöhnlich eifrig in der Abwehr war, der mit raumgreifenden, schnellen Schritten den Ball in die gegnerische Hälfte trieb, der lange, zentimetergenaue Pässe schlug und schließlich auch mit einem Tor dieses Match entschied: Günter Netzer. Wenn heute der einstige Regisseur von Borussia Mönchengladbach als Experte im Fernsehen auftritt, dann ist scherzhaft oft von seinem angeblichen Phlegma und von seiner Lauffaulheit die Rede - in Wembley jedoch lief keiner so viel wie dieser Günter Netzer. Seine langen blonden Haare waren vom Regen in dicke Strähnen verwandelt, er ackerte über diesen "heiligen Rasen". Die englischen Zeitungen waren voll des Lobes und nannten ihn "Siegfried". Ein Star war geboren.

Im weiteren Verlauf dieser Europameisterschaft sollte es dann in Deutschland zum beliebten Gesprächsthema werden, wer denn wohl der beste deutsche Fußballer sei: Franz Beckenbauer, der elegante Libero aus München, oder Günter Netzer, der kreative Regisseur aus dem Westen. Tatsächlich war es das Zusammenspiel der beiden, das diesem Team das Fundament gab. Das Rochieren der zwei Weltklassefußballer wurde von der Boulevardpresse als "Ramba-Zamba" gewürdigt.

Glück beim Elfmeter

Natürlich hatte dieser Netzer auch Glück, als er im Londoner EM-Viertelfinalspiel in der 85. Minute einen Elfmeter zum 2:1 verwandelte. Sein Schuss war hart, aber nicht sehr platziert. Torhüter Gordon Banks flog in die richtige Ecke, doch den glitschigen Ball konnte er nur leicht ablenken. Er flog an den Pfosten und dann ins Tor. Gerd Müller, damals der Torschütze vom Dienst, hatte diesen entscheidenden Strafstoß nicht schießen wollen. Er traf wenig später immerhin zum 3:1.

Nicht nur Netzer wurde an diesem Regenabend zur Legende. Auch zwei 20-Jährige fielen in der Mannschaft von Bundestrainer Helmut Schön auf - durch Spritzigkeit, Spielfreude und Unbekümmertheit. Es waren Uli Hoeneß und Paul Breitner vom FC Bayern München. Hoeneß brach immer wieder mit Soli in die englische Abwehr ein. Er erzielte in der 25. Minute das 1:0. Auch seine langen Haare wehten im Wind.

Wir Jugendliche am Fernseher schauten ungläubig. Das war nicht mehr der herkömmliche deutsche Fußball, das war eine Revolution. Das war jugendlicher, wilder, als es der DFB erlaubt. Hier spielten sich neue Vorbilder in unsere Teenagerwelten. Wir öffneten die letzten Bierflaschen, knabberten am Salzgebäck, und hatten das Gefühl, die Welt gehört uns. Deutschland wagte nicht nur mehr Demokratie, es wagte auch besseren Fußball. Logisch, dass diese Elf später Europameister wurde.

Alle Kriegsbeile begraben

"Diese elf deutschen Fußballspieler haben in 90 Minuten mehr Kriegsbeile begraben als die vereinigten Diplomaten der beiden Länder zusammen in 27 Jahren", schrieb Daily Mail nach dem Wembley-Wirbel: "Das war eine Mannschaft, die die alte Vorstellung vom Charakter der Deutschen ad absurdum geführt hat."

Die Deutschen hatten also erstmals auf der Insel gesiegt - nicht mit teutonischem Kampf, sondern mit moderner Spielkunst. Nicht mit einem Abwehrbollwerk, sondern mit Angriffsspiel. Gegen eine Mannschaft, die mit Leuten wie Torhüter Banks, Alan Ball, Bobby Moore oder Geoffrey Hurst noch einige Spieler aufbot, die 1966 in Wembley gegen Deutschland Fußball-Weltmeister geworden waren. Aber das war jetzt Geschichte.

Während der Heimfahrt mit dem Fahrrad lief im Kopf noch einmal der Film von London ab. Noch einmal eroberten die Spieler in den grünen Trikots den Rasen, noch einmal eilte Günter Netzer aus der Tiefe des Raums heran. Es regnete in London. Eine deutsche Nationalmannschaft wurde unsterblich.

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