Magdalena Neuners Karriereende:Abtauchen im Rinnsal

Olympiagold, WM-Titel, Gesamtweltcup: Magdalena Neuner hat mit ihren 24 Jahren gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Sie hätte noch viel mehr haben können, aber sie hört auf. Weil die Heimat ihr etwas gibt, was sie sonst nirgends findet. Eine Spurensuche in Wallgau.

Volker Kreisl

Der Junge ist höchstens zehn Jahre alt, er trägt eine dieser Haar- mützen, die vor vielen Jahren auf den Markt kamen und auf dem Dorf immer noch beliebt sind: mit feuerroten Polyester-Fransen als Haare. Die Sohlen seiner Moonboots schleifen über den nassen Gehsteig, er kaut auf einer Gummischlange herum, seine Schultasche hängt schief, während er mittags nach Hause trottet, wo vermutlich das Essen auf dem Tisch steht, auf das er dann keinen Hunger haben wird, wegen der Gummischlange.

Athlete Of The Year 2011

Magdalena Neuner in Abendgarderobe: 2011 wurde sie zur "Sportlerin des Jahres" gewählt.

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Ein einzelnes Auto schleicht vorbei, es ist so still in Wallgau, dass man den tristen Alltag hören kann: Das Tropfen des tauenden ersten Schnees und das perlende Geräusch langsam rollender Autoreifen auf nasser Straße. Man möchte dem Jungen zurufen: Halt durch! Noch zehn Jahre, dann kommst du hier raus, dann fährst du die große Bundesstraße hinunter in die Ebene, in die weite Welt.

Der Dezember ist langweilig in Wallgau. Der Winter ist noch verzagt und schmutzig. Wandertouristen sind auch noch keine da, und alles hat geschlossen: Die Cafés, die Gasthöfe, die Skischule mit Skiverleih.

In diesen Tagen kann man sich noch weniger vorstellen, was bald passieren wird: Dass diejenige aus diesem Dorf, die es geschafft hatte, die vor fünf Jahren die Straße in die Welt hinausgefahren ist und dort eine Biathlon-Prinzessin wurde, deren Namen laut Untersuchungen mehr als 95 Prozent aller "sportaffinen Deutschen" kennen und von den anderen auch die meisten, die noch eine lange Karriere vor sich hätte - dass die im April mit 25 aufhören wird und ausgerechnet hierher zurückkehrt, und zwar, um endlich richtig zu leben.

Das musste man erst mal schlucken als Wintersportfan, und viele verstehen es auch Wochen nach der Erklärung noch nicht. Da sehnt sich jemand also nach Heimat, dabei ist er doch Teil der weißen Wintersportwelt, die selbst wie eine große Heimat ist. Die Biathlon-Szene im Besonderen gilt als riesige Familie, in der jeder jedem alles gönnt und, zumindest in den Interviews, immer alle lieb zueinander sind.

Sie verfügt über regelmäßige Abläufe und vertraute Gesichter, die nach der Karriere als TV-Experten dabei bleiben. Im Biathlon wird viel gefeiert und in Bierzelten geschunkelt, ist das nicht eine unverdorbene Welt? Eine Welt zumal, in der sich ein beachtliches Einkommen erzielen lässt, und muss man im Leben dafür nicht auch immer Einbußen hinnehmen? Die Prinzessin versteht unter Heimat offenbar etwas anderes.

Wallgaus Bürgermeister Hansjörg Zahler sagt: "Hier hat sich niemand darüber gewundert, dass die Magdalena aufhört." Gewundert hätten sich die Wallgauer über andere Dinge. Zum Beispiel über die Szenen am Münchner Flughafen bei ihrer Rückkehr als Doppel-Olympiasiegerin von den Olympischen Spielen in Vancouver letztes Jahr: "Die Reporter sind mir vorgekommen wie eine kritische Masse, und irgendwann war diese Masse außer Kontrolle."

Kein Spaß am Berühmtsein

Für das beste Zitat, das beste Foto, haben sie, sagt Zahler, ihre Selbstbeherrschung verloren: "Sie haben Kinder über den Haufen gerannt, eine Frau ist hingefallen, dann sind welche auf die Leute von der Musikkapelle drauf gestürzt, und dann hat ein Security-Mann die Magdalena genommen und da rausgezogen."

Magdalena Neuner sucht die Ruhe in der Heimat

Gold zwischen Gamsbärten: Magdalena Neuner beim Empfang in der Heimat mit ihren Olympia-Medaillen von den Spielen in Vancouver.

(Foto: dapd)

Da bekommt die Lust am Berühmtsein einen Dämpfer. Genauso, wie wenn man endlich Olympia erlebt, aber vor lauter Terminen seine Eltern nicht treffen kann, geschweige denn irgendetwas mitkriegt vom sagenumwobenen "Olympic Spirit".

Oder wenn man abends um zehn aus seinem Haus tritt, aus einem einfachen, im ersten Stock holzgetäfelten Haus, das jene Fans unter den Wandertouristen, die keine Distanz kennen, mit großem Aufwand suchen müssen, weil in Wallgau alle Häuser gleich aussehen - wenn man also vor die Tür tritt, um den Müll hinauszubringen, und dann steht da in der Dunkelheit ein Mann. Aber letztlich ist die Prinzessin nicht nur von den Enttäuschungen und Auswüchsen der großen weiten Welt zurückgetrieben, sondern auch vom Kaff Wallgau wieder angezogen worden.

Nicht umsonst hat sie schon immer im Sommer am liebsten zu Hause trainiert, bei ihrem Heimtrainer Bernhard Kröll, oben, auf dem Truppenübungsplatz der Mittenwalder Gebirgsjäger. Kröll ist etwas stolz, wenn er den Platz vorführt, er verkündet mit leicht offiziellem Ton, es gelte das Wort der früheren Biathletin Martina Beck: "Die landschaftlich schönste Trainingsstätte Deutschlands." Warum, wird einem an einem sonnigen Tag sofort klar, egal ob man die Berge liebt oder nicht. Was sich in knapp 1200 Metern Höhe auftut, ist atemberaubend.

Kröll erklärt feierlich die Gipfel: "Links die Zugspitze, rechts davon das Estergebirge mit dem Wank davor, dann über Wallgau die Soierngruppe und ganz rechts das westliche Karwendel." Und dann sagt er: "Die Magdalena genießt das." Zum Training zählt ja auch das Bergsteigen, also das schnelle Aufwärtslaufen mit Stöcken im so genannten "Skigang".

Krölls Trainings-Bergsteigen ist zwar sportlich, aber es ist eben auch echtes, also wertungsfreies Bergsteigen, nicht zuletzt wegen der Wünsche seiner berühmtesten Schülerin. Die bestehe darauf, bis zum Gipfelkreuz hinaufzulaufen, das Gipfelbuch aus dem Schutzkasten zu nehmen und ihren Namen einzutragen. Danach wird gerastet und die mitgebrachte Brotzeit gegessen.

Training bei den Gebirgsjägern

Krölls Trainingsgruppe ist eine besondere Gemeinschaft, vielleicht deshalb, weil sie nicht funktionieren würde, wenn nicht wirklich alle zusammenhelfen. Unten in Kaltenbrunn zum Beispiel befindet sich die Winter-Trainingsanlage. Und wie alle anderen seiner Biathlon-Schüler hat dort auch Neuner, auch als sie schon Junioren-Weltmeisterin war, im November die Zäune, Übergänge und Schießrampen von Hand zusammengeschraubt. Denn im Sommer ist das eine Kuhweide. "Der Sportler", sagt Kröll, "baut sich hier seine Trainingsstätte selber, er kriegt damit vermittelt, was alles dahinter steckt, um erfolgreich zu sein."

Die Winteranlage ist schon recht putzig, und die Sommer-Schießanlage oben bei den Gebirgsjägern kann es erst recht nicht mit der gewaltigen Felskulisse aufnehmen. Ein Umkleidecontainer (Kröll: "Standardmaß: sechs mal zwei Meter fünfzig"), keine Toiletten und acht Scheiben sind zu sehen, sechs davon elektronisch, aber ohne Stromversorgung. Kröll schließt daher vor Trainingsbeginn zwei Autobatterien an.

Nach dem Schießen kann der Schütze nicht wie üblich geradeaus weiterskaten, sondern muss scharf kehrt machen, sonst landet er im Graben. Kurvt er dann auf der Rollerbahn durch die Buckelwiesen, muss er aufpassen, denn leichtere oder schwerere Armeefahrzeuge können entgegenkommen. "Aber wenn er dann mitten im Tempo bremsen muss?" - "Dann bremst er halt", sagt Kröll. - "Dann kommt er doch aus dem Rhythmus?" - "Schon, aber es nutzt ja nix!" - Kröll klingt nicht wie jemand, der sich für die bizarrste Trainingsstätte Deutschlands entschuldigen würde.

Die Buckelwiesen erklären aber letztlich auch nicht das Geheimnis Wallgau, denn die schnelle Biathletin wird nach ihrem Rücktritt schon bald nicht mehr da oben trainieren. Nach ihrem Rücktritt wird sie unten in einem recht durchschnittlichen Dorf mit 1440 Einwohnern leben, das sich in den vergangenen Jahren im Vergleich zu anderen Gemeinden kaum entwickelt hat.

In Wallgau gibt es kein Gewerbegebiet, keine Großprojekte, keine Wellness-Hotels, fast nur Fremdenzimmer-Tourismus. Die Lüftlmalerei an den Gasthöfen hat schon graue Patina, das Ortszentrum muss geordnet und erneuert werden. Die Heimat, die die Rückkehrerin meint, muss irgendwie innen liegen. "Heimat", hat sie mal gesagt, "ist nicht nur ortsbezogen, das hat mit den Menschen zu tun."

Sie hat dann die vielen Möglichkeiten des Brauchtums aufgezählt, ihre Liebe zu Vereinen erwähnt, zur Gemeinschaft, die sonntags immer noch in großer Zahl in die Kirche geht, die Traditionen halt. Verstehen kann das ein Außenstehender immer noch nicht richtig. Klar, Maitanz, Fronleichnamsprozession, Almabtrieb mit Pfarrer und geschmückten Kühen, Weihnachten auf dem Bauernhof - das schaut alles gut aus, aber für die meisten Menschen, die keine Dorfgemeinschaft kennen, bleiben die Bilder abstrakt, als würde man sie durch ein geschlossenes Autofenster betrachten.

Kein Fremder erfährt Neuners Adresse

Aufschlussreicher ist das, was die Rückkehrerin so über den Charakter ihrer Wallgauer sagt, und was zunächst nicht unbedingt positiv klingt. "Wir sind nicht so weltoffen, wir sind halt die ,Gebirgler'", sagt sie. Diese Einzigartigkeit ziehe sie irgendwie an, so wie der raue, nuschelige, Enden-verschluckende Wallgauer Dialekt, der für Fahrrad zum Beispiel das Wort "Ralla" bereithält, was schon in Mittenwald, zehn Kilometer weiter, "Ralle" heißt, ein Dialekt, den kein normaler Deutscher versteht.

Es ist vielleicht der Kern des großen Missverständnisses zwischen der 24-jährigen Biathlon-Prinzessin Magdalena Neuner und ihren zehntausenden Fans. Von denen wird sie dafür bewundert, dass sie angeblich über allen anderen steht, sie selber bewundert aber ihre kleine Gebirgler-Gemeinde, die in der Nische des Werdenfelser Hochtals seit den Zeiten der Römer-Handelsstraße von modernen Einflüssen weniger als die anderen abbekommt, die auch der Bürgermeister Zahler als "durchaus anfangs skeptisch" beschreibt.

"Wenn es dann aber passt", sagt Zahler, "entwickelt sich echte Freundschaft." Zahler sagt, man müsse nur den richtigen Ton treffen. Der Wallgauer schätze es, wenn man eine gewisse Achtung habe. Dass man nicht glaubt, man könne, nur weil sich in Bayern eh alle duzen, auch ältere Wallgauer einfach mit Du anreden (Genau genommen sagt man auch nicht "Sie", man sagt "Es", also bayerisch für "Ihr"). Oder dass man nicht glaubt, Anspruch auf alles zu haben, nur weil man einen Kurbeitrag gezahlt hat. Dass man, mit anderen Worten, den Menschen meint, und nicht dessen Funktion.

Direkt tiefenpsychologisch", sagt Zahler, sei dieses Gespräch jetzt, warum also nicht auch etwas Philosophie: Ihm falle der Vergleich mit dem Becher und dem Wasser ein, man spreche ja gerade irgendwie nicht über Materielles. "Unser Schwerpunkt", sagt Zahler, "liegt in den leisen Tönen." In Wallgau müsse man das Großartige in den Blumen und Kräutern auf den Wiesen suchen oder in einem Sonnenaufgang morgens um fünf auf der Wallgauer Alm. Aber das habe seine Vorteile, denn wolle man einen Becher mit Wasser randvoll kriegen und halte man diesen unter einen donnernden Wasserfall, dann werde man scheitern - anders als unter einem Rinnsal.

Wenn der Becher also der Mensch ist, das Wasser das Glück und Wallgau das Rinnsal, dann hat die zehnfache Weltmeisterin, die Doppelolympiasiegerin und zweimalige Sportlerin des Jahres Magdalena Neuner alles richtig gemacht. Sie wird nämlich wahrscheinlich bald nach dem Ende ihrer Laufbahn im April Kinder trainieren: die Biathlon-Anfänger, die die Waffe noch nicht auf dem Rücken tragen dürfen, sondern erst am Schießstand in die Hand nehmen. Nicht die Cracks von morgen, sondern die noch langsamen, manchmal schwierigen, begriffsstutzigen Kleinen, die hin und wieder noch diese roten Polyester-Haarmützen tragen und in Wirklichkeit wohl gar nicht weg wollen aus dem Hochtal.

Ein bisschen von der großartigen Normalität des Seins erlebt Magdalena Neuner auch schon jetzt, da ihre Märchen-Karriere noch läuft. In Wallgau gibt es eine unausgesprochene Übereinkunft, keinem Fremden ihre Adresse zu verraten, und ihre Freunde reagieren ganz von selbst, wenn Fans ohne Distanz zudringlich werden, im Bierzelt, an der Bar, wo auch immer. "Dann", sagt Bürgermeister Zahler, "bilden sie so einen, ja, einen Schutz-Kordon, kann man sagen, und manchmal sieht man die Magdalena dann gar nicht mehr." Zahler muss grinsen bei diesem Gedanken, aber es ist ja auch ein bisschen bezeichnend: Die Magdalena ist verschwunden, und der Becher ist voll.

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