Süddeutsche Zeitung

Männerturnier in Wimbledon:Nächster Stachel

Alexander Zverev muss erkennen, dass man mit einem wankelmütigen Aufschlag kein Grand-Slam-Turnier gewinnen kann. Trotzdem hat der 24-Jährige in Wimbledon einen guten Eindruck hinterlassen - vor allem in menschlicher Hinsicht.

Von Gerald Kleffmann, Wimbledon/München

Diesmal immerhin hat Alexander Zverev alles richtig gemacht, zumindest in der Pressekonferenz, er ist ja reifer geworden, 24 ist er und Vater eines Babys. "Ich bin auf dem Boot in Monte Carlo, ihr werdet mich hier nicht mehr sehen", mit diesen legendären Worten hatte sich der deutsche Tennisprofi noch 2018 in Wimbledon verabschiedet, als er gegen den lettischen Filou Ernests Gulbis in Runde drei in fünf Sätzen ausgeschieden war. Klang damals etwas, nun ja, überheblich. Drei Jahre später also wieder eine Niederlage über die maximale Distanz, 4:6, 6:7 (6), 6:3, 6:3, 4:6 gegen den Kanadier Felix Auger-Aliassime, diesmal eine Runde weiter, im Achtelfinale. "Ich habe das Match wegen meinem Aufschlag verloren", sprach er. Zverev gestand eine gewisse Ratlosigkeit ein, wie es dazu kam. Er sagte: "Ich würde es selber gerne verstehen."

Er war eigentlich in Form gewesen, geschmeidig durch dieses Grand-Slam-Turnier gecruist. Aber dann? Zerbröselte sein Spiel in den falschen Augenblicken. 20 Doppelfehler fabrizierte er. Mit einer solchen selbst auferlegten Last hechelt man automatisch nur noch Rückständen hinterher. Und so bot sich wieder ein Bild wie vor knapp vier Wochen bei den French Open, als er, im Halbfinale gegen den Griechen Stefanos Tsitsipas, auch einen 0:2-Satzrückstand ausglich und dennoch scheiterte: glasiger Blick, Kratzen am Arm, Suche nach Worten. "Alle Anerkennung gebührt ihm", sagte Zverev am Montagabend bemüht und lenkte den Blick auf den Sieger. Er lobte den 20-Jährigen aus Montreal, der als Jugendlicher schon mit begnadetem Talent aufgefallen war und nun alles andere als eine Überraschung ist. "Er hat seine Chancen genutzt", wusste Zverev. "Er ist jetzt im Viertelfinale. Sein Turnier geht weiter." Und seines nicht. Das sagte er nicht. Aber man hörte diese Worte förmlich.

Nicht mehr eingreifen zu können, während die anderen noch um den Titel spielen - für Zverev ist das, natürlich, jedes Mal wie ein Stachel in der Seele. Das hat auch mit seinem besonderen Ehrgeiz und seiner eigenen, immens hohen Erwartungshaltung zu tun. Er orientiert sich nur nach oben.

Selbst unangenehmere Fragen hatte Zverev an sich herangelassen

Deutschlands bester männlicher Spieler, die Nummer sechs der Welt, im All England Club an Nummer vier gesetzt gewesen, hat ja - so ist im großen Bild die Lage - vier Versuche im Jahr für den Jackpot: Melbourne, Paris, Wimbledon, New York, nur dort werden die Grand-Slam-Trophäen vergeben. "Ich bin in einem Stadium, in dem ich antrete, um den Titel zu gewinnen", dieses Mantra hatte er zuletzt gepredigt, es waren bemerkenswerte Worte gewesen. Denn: Zverev deckte seine Karten auf und versteckte sich nicht hinter Floskeln. Menschlich, nein, hat er diesmal niemanden in Wimbledon irritiert zurückgelassen, im Gegenteil.

Selbst unangenehmere Fragen hatte Zverev an sich herangelassen, zu seinem generellen Befinden. Was musste er nicht verarbeiten in den vergangenen ein, zwei Jahren: Er gewann ATP-Turniere, verpasste den Grand-Slam-Sieg in New York um zwei Punkte, von der Mutter des im März geborenen Mädchens ist er getrennt, eine andere Ex-Freundin hatte ihm häusliche Gewalt vorgeworfen, ein Streit mit seinem Ex-Berater endete (erfolgreich für ihn) vor Gericht, negative Schlagzeilen, weil er in Corona-Zeiten Party machte. Ein bisschen viel für einen jungen Mann. "Tennis hat mir sehr geholfen in den ganzen Situationen", antwortete Zverev ruhig. "Das war eine unglaubliche Ablenkung von vielen Sachen. Vor allem letztes Jahr."

In der Hektik des Turniers mit Match auf Match auf Match war tatsächlich untergegangen, wie sehr er sich in einer kleineren Runde mit deutschen Journalisten einmal geöffnet hatte. Dort hatte er Sätze gesagt wie: "Du musst erst mal mit dir selber klarkommen. Du musst erst mal dich selber finden. Und selber verstehen, was du möchtest, wer du bist." Und: "Ich habe viel Arbeit mit mir selber gemacht. Die in der Öffentlichkeit gar nicht zu sehen ist." Und: "Ich bin in mich gegangen. Ich habe Probleme herausgefunden, die ich mit mir selber hatte."

Nichtsdestotrotz ist es nun ironischerweise so, dass er Ablenkung vom Tennis benötigt. Auch das gehört wohl zu seinem weiteren Reifeprozess dazu, die richtige Dosierung von Auszeiten zu finden. Seit Beginn der Sandplatzsaison habe er durchgespielt, erkannte Zverev, der platt war: "Momentan möchte ich ein paar Tage Pause machen." Er wird demnächst in Deutschland ein paar "private Dinge" erledigen, kündigte er lose an, man ahnt, worum er sich kümmern dürfte. Dann steht das Training in Monte Carlo an, wo er wohnt. Dann folgt Olympia. Dann die US Open. 2021 rauscht schon wieder nur so durch.

DTB-Männerchef Michael Kohlmann baut Zverev auf

Michael Kohlmann, Head of Men's Tennis beim Deutschen Tennis-Bund (DTB), der im Davis Cup als Teamchef oft genug Feingefühl im Umgang mit Befindlichkeiten anderer bewies, sendete vorsorglich bereits ein aufbauendes Signal an seinen besten Mann. Er braucht ihn ja auch, in Japan bald. "Gerade im Kreis dieser Mannschaft ist er in der Lage, etwas Besonderes zu vollbringen", sagte Kohlmann der Nachrichtenagentur dpa. In Tokio, bei den Olympischen Spielen, werden neben Zverev noch Jan-Lennard Struff, Dominik Koepfer, Philipp Kohlschreiber sowie die Doppel-Spezialisten Kevin Krawietz und Tim Pütz für Deutschland bei den Männern antreten (bei den Frauen sind Angelique Kerber, Laura Siegemund und Anna-Lena Friedsam, im Doppel mit Siegemund, gemeldet).

Zverevs Scheitern auf hohem Niveau offenbarte aber auch einmal mehr, auf wie viele Puzzleteile es ankommt, um eine dieser Major-Veranstaltungen gewinnen zu können. Funktioniert ein Schlag nicht wie bei ihm der wankelmütige Aufschlag, reicht das für den Knock-out. Ist der Kopf nicht bei der Sache, ergeht es indes einem wie Novak Djokovic 2016 in Wimbledon. Private Probleme hatte er damals. Aus in Runde drei. Nun scheint der Serbe unbesiegbar zu sein, was mit seinem wieder erstarkten Selbstbewusstsein zusammenhängt. Jüngst meinte er, er betrachte "Wölfe gerne als meine spirituellen Naturführer". So spielt er gerade - furchtlos, furchteinflößend. Bei Roger Federer, 39, dem achtmaligen Champion, der lange nach zwei Knie-Operationen ausfiel, kehren die Stärken ebenfalls zurück, er habe "wieder meinen Rhythmus" gefunden, meinte der Schweizer, der sein 58. Grand-Slam-Viertelfinale (Djokovic steht in seinem 50.). Überraschend schied am Dienstag der russische Weltranglisten-Zweite Daniil Medwedew gegen den Polen Hubert Hurkacz mit 6:2, 6:7 (2), 6:3, 3:6, 3:6 aus.

Die großen Spieler, das hatte Michael Kohlmann auch gesagt, schafften es regelmäßiger als alle anderen, ihr hohes Niveau durch die zwei langen, hürdenreichen Wochen eines Grand Slams zu transportieren. "Das ist halt die Kunst, die es zu beherrschen gilt." Aber auch das weiß Zverev selbst längst: "Ich denke nicht, dass ich gut genug Tennis gespielt habe, um den ganzen Weg hier zu gehen."

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