Madrid:Die Beerdigung der Sardine

Madrid: War der Ball schon im Seiten-Aus oder noch drin? Schiedsrichter Felix Brych brauchte vier Minuten, um samt Video-Kollegen zu urteilen. Die Madrilenen Karim Benzema und Toni Kroos ahnten Schlimmes – das 3:0 für Ajax zählte.

War der Ball schon im Seiten-Aus oder noch drin? Schiedsrichter Felix Brych brauchte vier Minuten, um samt Video-Kollegen zu urteilen. Die Madrilenen Karim Benzema und Toni Kroos ahnten Schlimmes – das 3:0 für Ajax zählte.

(Foto: Javier Soriano/AFP)

Nach drei Champions-League-Titeln in Serie endet krachend Reals beeindruckender Erfolgszyklus.

Von Javier Cáceres, Madrid

Toni Kroos war der letzte Spieler, der den Rasen des Fußballtheaters namens Santiago Bernabéu verließ. Er tat es, nachdem er ausgiebig das Publikum beklatscht und den Daumen hochgereckt hatte - zum Zeichen dafür, dass ihm wohl bewusst war, welchem Drama sie gerade beigewohnt hatten: "Für die war das auch keine schöne Woche", sollte Kroos später sagen, und das war, nun ja, leicht untertrieben. 1:4 stand auf der Anzeigetafel über dem vierten Oberrang lesen; die Eins über dem Wappen von Real, die Vier über dem Emblem von Ajax Amsterdam. Ein Foto davon illustrierte anderntags die Titelseite der Sportzeitung Marca, begleitet von einem lapidaren Satz: "Hier ruht eine Mannschaft, die Geschichte geschrieben hat."

Drei Jahre hintereinander hatte Real bekanntlich die Champions League gewonnen, eine kontinentale Tyrannei etabliert, die im modernen Fußball ohne Beispiel war. Das letzte Team, das drei Mal hintereinander den Henkeltopf gewinnen konnte, war der FC Bayern gewesen, in den 70er Jahren des fernen 20. Jahrhunderts. Nun endete der Erfolgs-Zyklus Reals. "Im ersten Jahr des Videoschiedsrichters", wie die Zeitung El País bemerkte, und nach einer fußballerischen Lektion durch eine wundervolle Ajax-Mannschaft, die durch Hakim Ziyech (7.), David Neres (18.), dem sagenhaften Dusan Tadic (62.) und Lasse Schöne (72.) Tore von größter Anmut erzielte - und damit eine Woche des Horrors beendete, wie sie der Klub, der am Mittwoch 117 Jahre alt wurde, noch nie erlebt hatte.

Am Mittwoch vergangener Woche: K.o. im Pokal, nach einem 0:3 gegen den FC Barcelona. Am Samstag: Tschüss in der Meisterschaft, nach einer neuerlichen Niederlage (0:1) gegen den Erzrivalen. Nun, am Vorabend des Aschermittwochs, war auch der dritte mögliche Titel beerdigt wie die Sardine, die Spaniens Karnevalisten zu Grabe tragen, wenn die tollen Tage vorbei sind. Ajax drehte die 1:2-Heimpleite aus dem Hinspiel und beendete die seit 1 011 Tagen dauernde Real-Dominanz über Europa - ausgerechnet Ajax, Barças Bruder im Geiste Johan Cruyffs. Rechtsverteidiger Carvajal zog, beschämt und den Tränen nahe, ein vernichtendes Resümee: "Dies ist eine Scheißsaison."

Beziehungsweise: war. Denn die Saison ist für Real vorbei. Und das im März.

Dem widersprach Toni Kroos in wohlüberlegten, norddeutsch kühlen, staatsmännisch klingenden Worten. Natürlich wisse auch er, "dass es nun Gegenwind gibt, das ist okay", sagte er. Er "rede mit Absicht nicht von einer komplett schlechten Saison". Nicht, dass er etwas schöner darstellen wollte, als es ist: Die Tore von Cristiano Ronaldo, seit Sommer bei Juventus Turin, fehlen Real, vor allem aber hätten "zu viele Spieler ihr Topniveau nicht gefunden". Er selbst nehme sich da nicht aus, fügte Kroos hinzu, das sei wahrlich nicht seine beste Saison. Dennoch: Man müsse "vorsichtig" sein, beziehungsweise die richtige Perspektive einnehmen und aus der angebrachten Distanz würdigen, was war.

"Die Leute vergessen schnell ...", raunte Kroos noch; dass Real so viele kontinentale Titel aneinandergereiht hat, habe zu dem Trug geführt, dass der Triumph in der Champions League als "Normalität" angesehen wurde. Nur das sei eben nicht normal: "Ich bin dem Titel mit dem FC Bayern ziemlich lange hinterhergerannt", sagte er. Dass die Münchner seit 2013 die Champions League nicht mehr gewonnen haben, zeige auf, dass es "nicht normal" sei, "drei Mal in Serie zu gewinnen". Sondern dass es, im Gegenteil, "menschlich ist, wenn schlechtere Momente kommen".

Die Sportpresse in Madrid geht schon durch, wer gehen muss

Diese Defizite manifestierten sich am Mittwoch nicht nur im Großen, sondern auch im Kleinen. Denn dass bei Ajax gleich mehrere Spieler offensichtlich das Spiel ihres Lebens hinlegten, war das eine. Das andere: dass Real nach gut einer halben Stunde die Stürmer Vinícius und Lucas Vázquez verletzt auswechseln musste. Dass Real zwei Mal den Pfosten traf. Oder dass der Videoschiedsrichter vier Minuten lang zweifelte, ob der Ball vor dem Ajax-Kontertor zum 0:3 im Seitenaus gewesen war - um doch auf Tor, also zu Ungunsten von Real zu entscheiden. Zu Ungunsten des Teams also, das in den vergangenen Jahren so verblüffend oft von Schiedsrichtern begünstigt worden war.

Nun? Hat Real bei 12 Punkten Rückstand auf Spitzenreiter Barça die längsten Monate der Neuzeit vor sich, voller Debatten ums Personal. Trainer Santiago Solari, im Oktober verpflichtet, weiß, dass er gehen muss, einen sofortigen Rücktritt schloss er aus, doch auch ihm kam zu Ohren, dass die Vereinsführung in der Nacht auf Mittwoch eine Krisensitzung improvisierte. Ex-Trainer José Mourinho kokettiert mit einer Rückkehr. Doch das Interesse von Vereinsboss Florentino Pérez soll erkaltet sein. Er hält immer noch große Stücke auf den Portugiesen - aus Marketinggründen will er aber keinen arbeitslosen Trainer, sondern lieber schauen, wie sich mögliche Kandidaten in den nächsten Monate bewähren - beispielsweise Massimiliano Allegri von Juventus Turin. Derweil werden in den Redaktionen der Sportpresse in Madrid schon die ersten schwarzen Listen konfektioniert, mit jenen Spielern, die zum Saisonende gehen werden, wollen oder müssen. Die Torhüter Keylor Navas und Luca Zidane stehen drauf; der frühere Frankfurter Jesús Vallejo, Odriozola und der brasilianische Nationalspieler Marcelo; teure Flops wie Mariano oder Brahim Díaz, gestürzte Ikonen wie Isco und vor allem Gareth Bale, der bei Real so viel Geld verdient, dass sein Manager schon sagte, für ihn käme nicht einmal ein Wechsel in die Premier League infrage. Auch Toni Kroos ist nicht unantastbar - auch wenn er versicherte, er bleibe zu "hundert Prozent."

Wie der Umbruch aussieht, ist ebenso offen wie der Verbleib von Weltfußballer Luka Modric. Unklar ist, wie flüssig Real ist. Zuletzt genehmigten die Mitglieder einen Kredit über 525 Millionen Euro, mit dem aber nicht die Mannschaft aufgemotzt werden soll, sondern das Dach und die Fassade des Bernabéu-Stadions. In Madrid spotten sie, Klubchef Florentino Pérez, 71, wolle sich selbst ein Mausoleum errichten. Die Federführung hat übrigens eine deutsche Architekturfirma, die viele Großprojekte gestemmt hat - und beim Flughafenchaos in Berlin mitmischt. Aber es soll schön werden, das Dach.

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