Luis Suárez war schon ein paar Mal innerlich zusammengebrochen und hatte geweint. Doch dann lachte er. Wegen der Tränen, die ein Journalist von Radio Internacional de Rivera vergoss, unmittelbar, nachdem er seine Frage formuliert hatte. „Der weint ja!“, entfuhr es Suárez auf der Bühne, auf der er vor Dutzenden Medienvertretern saß, weil diese ahnten, was Suárez in einem stockenden Vortrag zu verkünden hatte: den Rücktritt aus der uruguayischen Nationalelf. Das WM-Qualifikationsspiel gegen Paraguay in Montevideo wird einen Schlusspunkt setzen. „Bitte versteht, dass am Freitag … es fällt mir schwer, es zu sagen … mein letztes Spiel mit der Auswahl meines Landes sein wird“, sagte Suárez. Wobei jede Ellipse für Tränen, tiefe Atemzüge und das Ringen um Fassung stand.
„Sos leyenda viva“, stand auf der Wand, die der uruguayische Verband AUF im Rücken des nationalen Rekordtorschützen (69 Treffer in 142 Spielen) aufgebaut hatte, „du bist eine lebende Legende“. Vermutlich wird der Stürmer, aktuell beim US-Klub Inter Miami aktiv, tatsächlich als solche in Erinnerung bleiben.
Interview mit Diego Latorre:„Die Spieler verwandeln sich in Bauern eines Schachbrettfußballs“
Wie kommt die EM im Land des Weltmeisters an? Der argentinische TV-Experte Diego Latorre moniert die Neigung vieler Trainer, Spiele durch Taktik gewinnen zu wollen. Er ist enttäuscht vom Niveau des Turniers – aber begeistert von einzelnen, ikonischen Momenten.
Immerhin geht Suárez als der erfolgreichste Torjäger der Geschichte eines Landes, das nach Einwohnern mit der Bundeshauptstadt Berlin vergleichbar ist, aber 14 Mal an Weltmeisterschaften teilnahm, zwei WM-Titel und, als der Fußball laufen lernte, zwei Goldmedaillen bei Olympischen Spielen gewann. Erst vor wenigen Jahren wurde Uruguay als Rekordsieger der Copa América von Argentinien abgelöst; Uruguay hat den ältesten Kontinentaltitel der Welt fünfzehnmal, Argentinien sechzehnmal erobert. Beim bislang letzten uruguayischen Sieg – 2011 in Argentinien – war Suárez dabei. Er hat in seiner Karriere so einiges gewonnen, nationale Titel und Torjägertrophäen. Aber er würde „nichts davon gegen jene Copa América eintauschen“, sagte er.
Suárez stand auch für eine Form irrationaler Aufopferung, ohne die Uruguays Erfolge kaum zu erklären wären. Bei der WM 2010 in Südafrika verhinderte er in der 120. Minute des Viertelfinales gegen Ghana auf der eigenen Torlinie per Hand einen Treffer Ghanas und nahm eine rote Karte in Kauf. Weil Ghanas Galionsfigur Asamoah Gyan den Strafstoß verschoss, setzte sich Uruguay im Elfmeterschießen durch. Nach der WM 2014 in Brasilien wurde Suárez monatelang gesperrt, weil er dem Italiener Giorgio Chiellini in die Schulter gebissen hatte. Chiellini verzieh dem Mann, der fortan in deutschen Medien als „Beißer“ galt. Die Geste änderte nichts daran, dass jene Zeit die schlimmste seines Lebens war, wie Suárez gestand.
Der Biss gegen Chiellini beschäftigte Luis Suárez jahrelang
„Meine größte Angst war, dass dieses Bild von mir bei den Uruguayern und meinen Kindern haften bleibt“, sagte er und schluchzte: „Ich habe es abwenden können.“ Er habe damals gelernt, dass nichts besser ist, „als jenen wehzutun, die sich daran weiden, dass du am Boden liegst, indem du wieder aufstehst“.
Dass Suárez ausgerechnet jetzt geht, obwohl ihn viele bekniet haben, den Abschied hinauszuzögern, bedauern viele Uruguayer doppelt und dreifach. Sein designierter Nachfolger Darwin Núñez (FC Liverpool) ist wegen einer Keilerei mit kolumbianischen Zuschauern bei der Copa América 2022 gesperrt und fehlt bei den WM-Qualifikationsspielen. Er wolle aus freien Stücken gehen, sagte Suárez, 37. Die nächste WM 2026 ist für ihn zu weit weg.
„Ich bin eines Morgens aufgestanden und merkte, wie mein Herz mich darum bat, hiermit abzuschließen“, sagte Suárez. Kurz danach stand er vom Podium auf und ging unter dem Applaus der uruguayischen Journalisten und zu den Klängen eines Liedes einer uruguayischen Band namens No Te Va a Gustar: „Ich weiß, dass du um neun gehst/und ich weiß, dass ich um zehn sterben werde.“ Seine aktive Karriere ist noch nicht vorbei; was er danach macht, ist offen. Trainer aber, so sagte er, werde er nicht.