Löws EM-Kader steht:Endlich in den Turniertunnel eingetaucht

Nachdem Joachim Löw niemanden mehr vor die Tür setzen muss, geht es für die Nationalelf nun mit Tempo auf die Europameisterschaft zu. Die neue Klarheit tut dem Bundestrainer gut, ihm war die Kaderplanung unangenehm - selbst die zuletzt wackelige Abwehr sieht der Coach auf dem Weg zur Stabilität.

Philipp Selldorf, Tourettes

Die Spieler, die er am Montag mit dem Privatflugzeug nach Hause reisen ließ, waren nach Angaben des Bundestrainers nicht bloß "unglaublich enttäuscht". Sie waren auch noch "absolut niedergeschlagen". Besonderes Bedauern widmete Joachim Löw dem Stuttgarter Stürmer Cacau, dem er viele gute Eigenheiten bescheinigte ("integer, sozial, immer respektvoll") und dessen Vertreibung ihm besonders schwer gefallen ist.

Objektiv gesehen hatte jedoch Julian Draxler den größten Grund zur Enttäuschung. Ihm hat der Bundestrainer zwar ebenfalls freundliche Worte hinterhergerufen ("gerade er ist ein Gewinner der Vorbereitung, weil er uns nachhaltig überzeugt hat"), aber anders als Cacau, Sven Bender und Marc-André ter Stegen - die übrigen Nationalspieler, die nicht in den EM-Kader passen - darf Draxler jetzt nicht in Urlaub fahren. Er wird stattdessen zur Schule gehen und das Fachabitur ablegen, und wenn er damit fertig ist, dann muss er in Schalke wieder zur Arbeit erscheinen.

Was er an Unterricht versäumt hat während der zweieinhalb Wochen auf Sardinien und Frankreich, das werden ihm die Lehrer der Gesamtschule Berger Feld in Sonderschichten verabreichen, und womöglich muss er auch wieder bei seinem Rektor im Wohnzimmer sitzen und eine verpasste Klausur nachschreiben. Schon einmal hat er dort eine Französischarbeit verfasst, "im Hintergrund tickte die ganze Zeit eine Kuckucksuhr, das hat mich ganz nervös gemacht". So hat er das erzählt, als er noch Hoffnung hatte, ihm könnte die Kuckucksuhr erspart bleiben, weil er vielleicht doch im Auftrag des Vaterlandes nach Danzig fahren dürfte.

Draxler hat damals die Klausur bestanden, und Löw wird ihn bestimmt wieder einladen. Auch ter Stegen und Sven Bender wurden mit dieser tröstenden Aussicht verabschiedet, "es sind ja ganz junge Kerle". Dass Torwart ter Stegen sich sozusagen selbst rausgeworfen hatte beim Spiel in der Schweiz, das wollte Löw zwar nicht bestätigen, aber auch nicht dementieren: "Man hat sich davon nicht entscheidend beeinflussen lassen", erklärte er und setzte in etwas anderem Kontext hinzu: "Vielleicht hätte eine überragende Leistung etwas bewirkt." Eine solche Leistung hatten Löw und Torwarttrainer Andreas Köpke dem 20-Jährigen zugetraut. So jedoch waren die fünf Gegentore zur Hypothek geworden.

Als Gewinner des Auswahlverfahrens haben Beobachter den Dortmunder Ilkay Gündogan und den Leverkusener Lars Bender ausgemacht, die sich als Außenseiter fürs Turnier qualifizieren konnten. Der wahre Gewinner aber ist Joachim Löw, weil er froh ist, dass die Sache endlich vorbei ist. Dass die Unsicherheit unter den Heimreisekandidaten im Kader um sich griff, hat ihn bewogen, schon vor dem Ablauf der Meldefrist Tatsachen zu schaffen.

Die Klarheit tut ihm selber gut, ihm war das Thema unangenehm. Als er am Dienstag in Südfrankreich vor die Presse trat, machte der Bundestrainer den Eindruck eines Mannes, der sich aller Lästigkeiten entledigt hat und jetzt den Blick auf die wahren Aufgaben richten kann. Er hat seinen Wunschkader beisammen, es sind die Spieler, die er haben wollte, keiner fehlt wegen Krankheit oder Verletzung. Er muss auf niemanden mehr warten, keinen mehr vor die Tür setzen, es gibt keine Ablenkungen mehr.

Alles akribisch durchdacht

Zwar hatten Löw und sein Assistent Hansi Flick ihr Trainingsprogramm vom ersten Tag der EM-Vorbereitung auf Sardinien bis zur Abreise aus Südfrankreich am Mittwoch wie üblich minutiös durchkomponiert (laut Sami Khedira "genauso akribisch, durchdacht und konzentriert wie beim letzten Mal"), aber es hatten sich doch viele Dinge störend in den Weg gestellt. Zum Beispiel ein störrischer Pfosten bei einem Elfmeterschießen in der Münchner Arena.

Von diesen Dingen will Löw jetzt nichts mehr wissen, er ist schon in den Turniertunnel getaucht. "Das Champions-League-Finale interessiert mich überhaupt nicht mehr", hat er am Dienstag ausgerufen, als verbitte er sich dieses dumme Thema. Auch von der Debatte über die vielfältigen Nöte der Abwehrreihe, von Mertesackers altenglischer Langsamkeit bis zum Nationalelfsyndrom der Dortmunder Hummels und Schmelzer, nimmt er lächelnd Abschied. "Ich halte das nicht für erschreckend", sagte er im Tonfall der Belustigung. Er glaubt, es besser zu wissen als das aufgeregte Publikum. Den Innenverteidigern sprach er stattdessen das Vertrauen aus, "drei Klasseleute" wähnt er im Kader, und damit hat er außer Badstuber ausdrücklich Mertesacker und Hummels gemeint.

So geht der Bundestrainer mit Tempo aufs Turnier zu, vorige Woche hatte er sein Team noch - eine Metapher aus der Tour de France nutzend - im Prolog gesehen, jetzt lokalisiert er es schon in Alpe d'Huez im Hochgebirge. So schnell war selbst Lance Armstrong nie unterwegs.

Und schnell geht es weiter: Mittwoch die Abreise aus Südfrankreich, Donnerstag das Länderspiel in Leipzig gegen Israel, am Montag die Abreise nach Danzig. Das klingt nach Hektik, aber je zügiger es auf die EM zugeht, um so mehr glaubt Joachim Löw, dass all seine Leute pünktlich parat sind: "Wir werden, wie immer vor den Turnieren, von Tag zu Tag stabiler, ausgewogener, dynamischer - und wacher."

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