Süddeutsche Zeitung

Deutsche Nationalelf:Der kämpferische Herr Löw

Der Bundestrainer soll sich über fehlende Rückendeckung von DFB-Präsident Keller beschwert haben. Löw findet: Die Entscheidung, mit ihm weiterzumachen, hätte auch früher fallen können.

Von Philipp Selldorf

Die sogenannte kleine Runde der DFB-Spitzenfunktionäre erlebte den Bundestrainer am Montag in der Verbandszentrale anders, als er zuletzt in Presse, Funk und Fernsehen dargestellt wurde: weder ratlos noch resigniert und schon gar nicht amtsmüde. Teilnehmer beschrieben sein Auftreten als konzentriert und motiviert und sogar als "kämpferisch". Allerdings habe sich diese Haltung, die das Publikum gern öfter an ihm sehen würde, nicht nur auf sein Team und die sportlichen Ziele gerichtet. Sondern auch gegen den Präsidenten Fritz Keller, von dem sich Löw offenbar mehr Unterstützung gewünscht hatte.

Zwar hatte Keller den Trainer am Tag nach der 0:6-Niederlage der Nationalelf in Spanien seines Beistands versichert, doch in den folgenden Tagen vermisste Löw die Zeugnisse des zugesagten Rückhalts. Keller schwieg in der Öffentlichkeit mit beachtlicher Beharrlichkeit. Deshalb soll es nun im Gespräch mit dem Präsidial-Ausschuss des DFB einigermaßen zur Sache gegangen sein. Tenor von Löws Beschwerde: Dieses Ergebnis - seine Bestätigung im Amt - hätte man auch früher haben können. Seit dem schweren Zwischenfall in Sevilla sei zum Schaden der Beteiligten, vor allem aber zu seinem eigenen Nachteil, zu viel Zeit vergangen. Keller soll sein Missfallen über die Protestnote geäußert haben, zumal da Vize-Präsident Rainer Koch den Bundestrainer unterstützte.

Womöglich kamen Löw also die allgegenwärtigen Spannungen zugute, die sich aus dem schwierigen Verhältnis zwischen dem Seiteneinsteiger Keller und den altgedienten Funktionären des Verbandes ergeben. Ein Klub mit einer so uneinigen Führung wie der DFB verfügt nicht über die Entschlossenheit und Beschlussfähigkeit, um den teuren Meistertrainer zwei Jahre vor dessen Vertragsende zugunsten einer unkalkulierbaren Ersatzlösung zu entlassen. Man kann es aber auch so sehen, wie Löw es reklamierte: dass es gar keines Grundsatzgesprächs und keiner Konfrontation bedurft hätte, um die Entscheidung so zu treffen, wie sie nun gefallen ist. Für die vom DFB formulierte Erkenntnis, dass ein einzelnes Spiel, selbst wenn es 0:6 endet, nicht "der Gradmesser für die grundsätzliche Leistung des Bundestrainers und der Nationalmannschaft" sein dürfe, bedarf es keiner zwei Wochen Bedenkzeit.

Die DFB-Verantwortlichen interpretieren das 0:6 nicht als Schlüsselerlebnis

Andererseits hat der Abstand zum Geschehen die Verantwortlichen davor bewahrt, der Skandalstimmung zu erliegen. Sie konnten emotional abkühlen. Nicht zuletzt geht aus dem Beschluss für Löw nun hervor, dass die DFB-Oberen den Sonderfall des Debakels nicht als Schlüsselerlebnis interpretieren, sondern auf den banalen sportlichen Kern und dessen Umstände zurückführen möchten. Der deutschen Nationalelf sei es in ihrer derzeit unfertigen Zusammensetzung nicht möglich, Gegner wie Spanien und Frankreich in zehn Partien achtmal zu besiegen, hieß es aus der Runde verständnisvoll. In verrückten Zeiten wie diesen seien dann verrückte Ergebnisse möglich.

Und wenn nun überall beklagt werde, dass sich Löw aus dem öffentlichen Leben davonstehle (auch am Montag wählte er einen verschwiegenen Seitenausgang, als er das Hauptquartier verließ), dann seien aus Gründen der Gerechtigkeit doch zumindest zwei Punkte zu beachten. Erstens: "So war er halt immer schon." Und zweitens: Was sollte er denn machen? Die Gründe für seine Abwesenheit seien ja offensichtlich. Zehn Monate lang hatte es wegen der Corona-Pause keine Länderspiele gegeben, dann begann in der Bundesliga die Epoche der Geisterspiele.

Mancher Beobachter hatte gemutmaßt, dass sich der Bundestrainer und sein Arbeitgeber in der vieldiskutierten Hummels-Müller-Boateng-Frage auf eine Formel verständigen könnten, die den drei verbannten Weltmeistern eine Rückkehr in Aussicht stellt. Teilen des Publikums und der tonangebenden TV-Experten hätte das womöglich gefallen, es hätte ein paar PR-Pluspunkte bringen können. Aber über dieses Thema wurde am Montag nicht gesprochen. Aufstellung bleibt Trainersache, an diesem Grundsatz wurde nicht gerüttelt, zumal da zumindest einzelne Teilnehmer die Debatte für unehrlich halten: Die Entscheidung, Mats Hummels, Jérôme Boateng und Thomas Müller aus dem Bestand der Nationalelf zu nehmen, habe Löw Anfang 2019 getroffen, die Niederlage in Sevilla habe es im November 2020 gegeben - "und das soll dann die Schicksalsfrage der Nation sein?"

Zwischen dem vermeintlichen Schicksalsabend in Sevilla und dem Treffen in Frankfurt hat Jogi Löw getan, was er immer getan hat. Er hat mit seinen Trainerkollegen Marcus Sorg und Andreas Köpke konferiert, mit Oliver Bierhoff gesprochen und selbstverständlich auch den Rat seines schweizerischen Mentors Urs Siegenthaler eingeholt. Er hat in seine eigene kleine Welt hineingehorcht. Wie lange er diese Praxis noch im Dienst des DFB fortsetzen wird, das bleibt ein offener Prozess. Mancher Kommentator wollte aus dem Kommuniqué herausgelesen haben, die Zusage vom Montag sei auch schon eine Zusage für die Vertragserfüllung und somit für die Weiterbeschäftigung bis zum WM-Turnier in Katar Ende 2022. Aber so ist das nicht gemeint. Der langfristige Blickwinkel werde "bei jedem Turnier neu überprüft", lautet die Trendmeldung aus der kleinen Runde.

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SZ vom 02.12.2020/chge
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