Fußball-WM:Betriebshygiene und Privatfriseure

  • Das Allerwichtigste auf der To-do-list von Joachim Löw ist nach der WM in Russland: den Spielerkader straffen.
  • Neben sportlichen Defiziten traten auch atmosphärische Probleme auf, die Löw nun moderieren muss.
  • Zudem wird von ihm erwartet, dass er mehr Einfluss auf Spieler und Taktik nimmt und im Wettkampf aktiver coacht.

Von Moritz Kielbassa, Christof Kneer und Philipp Selldorf

Joachim Löw, Oliver Bierhoff und der DFB haben in Frankfurt zwei Tage über die Weltmeisterschaft gesprochen. Aber was genau wird analysiert, was geht vor im Bundestrainerkopf nach dem WM-K.o? Teil 2 der großen SZ-Analyse. (Hier geht es zu Teil 1)

Baustelle Mannschaft

Das Allerwichtigste auf der To-do-list jedoch: Löw muss seinen Spielerkader straffen. Weniger Treueherzen für Rio-Weltmeister, mehr Dynamik im Team, neue Hierarchien! Zwar ist bei Einzelfallbetrachtung keiner der Plusminusdreißiger wie Boateng, Hummels, Khedira, Müller, Özil, Kroos an einem Punkt, an dem das Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Aber klar scheint auch: Alle gemeinsam weiter auf dem Rasen geht nicht. Aufgehört hat offiziell niemand, auch beim Erdogan-Foto-belasteten Mesut Özil rechnet der DFB zwar mit Publikumspfiffen im Herbst, aber nicht mit einem Rücktritt.

Der in Russland enttäuschende Routinier Sami Khedira rechnet laut eines Vertrauten allerdings damit, für die kommenden Länderspiele erst mal nicht nominiert zu werden. Eine Option wäre, Joshua Kimmich von der rechten Außenspur in eine leitende Mittelfeldfunktion zu versetzen. Doch der Münchner hat dasselbe Luxusproblem wie einst Philipp Lahm: Beim FC Bayern und in der Nationalelf gibt's keinen Besseren für rechts hinten - das Kernproblem für Löw in Russland war allerdings die poröse Mittelfeldzentrale. Generell wäre mehr Leistungsprinzip und weniger Loyalität bei den Russland-Aufstellungen klüger gewesen, auch das ist Löw inzwischen bewusst.

Und bei allen Verdiensten: Dass gleich drei Spieler nach mehr oder weniger langen Verletzungsepisoden gesetzt waren (Neuer, Boateng, Özil), dazu Reus mit noch reduzierter Fitness, war fürs Klima im Team durchaus problematisch. So weiß Löw auch, dass er künftig jene Spieler stärken muss, die 2017 in Russland den Confed Cup gewannen, etwa Leon Goretzka, Julian Brandt, Emre Can. Löw will vermeiden, dass man die deutsche Startelf künftig schon drei Monate vor einem Spiel kennt. Und natürlich zählt neben möglichen Newcomern wie Kai Havertz oder Philipp Max auch der vor der WM rätselhafterweise heimgeschickte Leroy Sané zu den Zukunftsjokern.

Die sportliche WM-Analyse

Achtung, kein Scherz: Deutschland weist laut Datenanalyse in der Vorrunde die zweitbeste Laufleistung aller 32 Teams aus. Aber auch Löw hat gemerkt, dass es an Geschwindigkeit mangelte: zu wenig Speedpässe und Sprints in die Tiefe, kein Esprit beim Spiel ins Heck der Gegnerabwehr - und die größte Temposünde der DFB-Elf: das mangelhafte Umschalten auf Abwehr bei Kontern des Gegners.

Löws Schnellanalyse der WM hat nun ergeben, dass die besten Teams "zweigeteilt" agierten. Vereinfacht gesagt: Die offensiven vier, fünf Topspieler von Frankreich oder Belgien waren so gut und zielstrebig, dass fünf andere Spieler sich um die Absicherung nach hinten kümmern konnten. Nach Löws Deutung fehlten seiner Elf ausreichend flinke Außenangreifer der Güteklasse Mbappé oder Hazard sowie Stoßstümer wie Kane oder Lukaku. Deshalb waren oft sieben, acht Spieler, inklusive der Außenverteidiger, hoch aufgerückt ins Offensivspiel einbezogen. Bittere Folge: Bei Ballverlust standen die Innenverteidiger Hummels und Boateng allein gegen die Konterwellen, und hinter den Außenverteidigern taten sich für die Gegner wunderschöne Grünflächen auf.

Eine weitere schmerzhafte Erkenntnis: Trotz Millionen begabter Fußballer hatte Deutschland bei der WM keinen autoritären defensiven Sechser wie Kanté oder Casemiro (oder wie den smarten, trotzdem kampfbereiten Schweinsteiger 2014) - und auch keinen Knipser aus der guten, alten Mittelstürmerschule. Von 69 deutschen Torschüssen, in drei Spielen ein sehr guter Wert, fanden nur zwei ins Ziel.

Löw weiß, dass er nun erst mal mehr auf hochtourige Spieler als auf Breitbandfußballer setzen muss. Jahrelang galt für ihn Spaniens dominantes Pass-Spiel als Nonplusultra. Zwar muss Löws verehrter Ballbesitzfußball nicht beerdigt werden, aber Ballkreiseln als Selbstzweck führt ins Nichts - und in keiner Bibel für Tiki-Taka steht, dass man bei Ballnichtbesitz schlecht organisiert verteidigt. Gegenpressing war bei der DFB-Elf in Russland kaum zu erkennen, selbst wohlwollende Insider wundern sich, dass seit 2016 keinerlei Fortentwicklung des Spielstils erkennbar wurde. "Ich sehe auf dem Feld nicht, woran die gearbeitet haben", sagt ein übrigens sehr wohlwollender Experte. Und Löw hat wohl auch eingesehen: Ohne Plan B wird kein Neuanfang gelingen.

Schwingungen und Betriebshygiene

Medial viel diskutiert seit dem WM-Aus wurden atmosphärische Störungen innerhalb des Teams. Intern wurde der Bonus der Etablierten skeptisch beäugt, und wenn Hummels warnte oder Kroos mahnte, dachten viele Mitspieler: Bringt erst mal selber Leistung! Eine über alle Zweifel erhabene Autorität fand sich nicht. Die beiden Abwehrchefs, Hummels und Boateng, sollen sich sogar herzlich abgeneigt sein.

"Hätten Mats und Jérôme richtig zusammengearbeitet, hätten sie eine wahnsinnige Waffe sein können", sagt einer, der die Teamkabine kennt. Wofür Löw nichts konnte: Alle Bayern-Spieler steckten nach Champions-League-Aus und blutleer verlorenem Pokalfinale in einem mentalen Loch. Wofür Löw durchaus etwas konnte: Alle Bayern-Spieler blieben auch nach vielen Wochen Vorbereitung im selben Loch.

Nie fand die Elf zur Gier von 2014, weder auf dem Platz noch außerhalb. Im Camp in Watutinki wurde lieber im Zimmer gesurft, bis der DFB das Internet abdrehte. Privatfriseure flogen ein, Filmaufnahmen wurden geduldet. Es fehlte das Commitment fürs gemeinsame Ziel, und es fehlten eben die Integrationsfiguren wie 2014 in Brasilien, als Schweinsteiger, Lahm, Klose und Mertesacker sich, durchaus kontrovers diskutierend, um die innerbetriebliche Hygiene verdient machten.

Jogis Selbstbild

Seit 2014 wirkte Löw lässig über den Dingen schwebend, und auch da gilt die alte Fußballweisheit: Jede Mannschaft ist das Spiegelbild ihres Trainers. Wenn Löw Lust hatte auf Guten-Morgen-Szenen am Strand wie vor dem Schweden-Spiel in Sotschi, dann posierte er da halt. Löw, so ist zu hören, sei durchaus bewusst, dass er an seiner Außendarstellung feilen muss. Es ist zwar eine Illusion, von einem 58-Jährigen einen radikal neuen, autoritären Führungsstil zu fordern, wie es Lahm soeben anregte; da wäre Löw schnell unglaubwürdig. "Ich finde das in der Art und Weise nicht richtig", sagte Löw am Freitag selbst zur Lahm-Kritik. Aber mehr Einfluss auf Spieler und Taktik nehmen und im Wettkampf aktiver coachen: Das wird jetzt erwartet. Ebenso, dass sich Löw in Konflikte wie die Fotoaffäre Erdogan/Özil/Gündogan stärker einmischt - und sich nicht auf die Rolle des Sportlehrers zurückzieht.

Das ist der Gesamteindruck, der nach der WM-Analyse hängen geblieben ist: Löw hat seinen Spielern die reduzierte Körperspannung vorgelebt. "Die entscheidende Frage ist", sagt daher ein prominenter Bundesligatrainer, "ob Jogi in Zukunft wieder brennt - und das auch ausstrahlt."

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