Nationalmannschaft:Herr Löw wird plötzlich radikal

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Nicht mehr zusammen: Joachim Löw und Thomas Müller. (Foto: Bongarts/Getty Images)
  • Mit dem Rauswurf der drei Weltmeister Mats Hummels, Jérôme Boateng und Thomas Müller vollzieht Bundestrainer Joachim Löw einen radikalen Schritt.
  • Noch vor fünf Monaten betonte das Trainerteam die Wichtigkeit der Bayern-Achse.
  • Mit der Entscheidung rückt Löw von vielen Grundsätzen ab, an die er bisher geglaubt hat. Es ist eine Neuerfindung.

Von Martin Schneider

Es war am 10. Oktober 2018, als Bundestrainer Joachim Löw von seiner Bayern-Achse schwärmen ließ. Sein Assistent Marcus Sorg sprach vor den Länderspielen gegen die Niederlande und Frankreich zur Presse und meinte: "Es sind Topspieler. Das hat auch die Tatsache gezeigt, dass sie nach der WM einen sehr guten Start bei Bayern hatten. Es ist unglaublich wichtig, dass wir so eine Achse haben." Nun, keine fünf Monate später, hat der Trainerstab diese unglaublich wichtige Achse per Pressemitteilung aus der Nationalmannschaft befördert.

Löw ist urplötzlich radikal geworden. Nach der radikal versiebten WM verzog er sich zuerst radikal lange in den Urlaub und verkündete dann auf einer einberufenen Pressekonferenz - nichts Radikales. Sami Khedira werde erstmal nicht nominiert und außerdem muss einer von zwei Co-Trainern, Thomas Schneider, gehen. Ansonsten müsse man einfach nur anders auftreten und taktisch ein bisschen was ändern. Und die erfahrenen Spieler, die brauche man natürlich weiterhin.

Nun muss man wohl festhalten, dass Löw bereits nach kurzer Zeit von den löwschen Erkenntnissen nichts mehr hält. Knackpunkt war offensichtlich das 0:3 gegen die Niederlande am 13. Oktober 2018, als Löw erkannte, dass es für die Renovierung des Nationalmannschaft-Hauses doch nicht ausreicht, einfach über die bestehende Bausubstanz zu streichen. Er nominierte Jérome Boateng nicht mehr, Thomas Müller saß auf der Bank - vorne stürmten Timo Werner, Serge Gnabry und der von Löw zuvor unehrenhaft aus dem WM-Kader entlassene Leroy Sané. Mats Hummels spielte übrigens noch.

Löw stellt sogar Manuel Neuer, seinen Kapitän, in Frage

Zu diesem Zeitpunkt war schon absehbar, dass aus der Final-Mannschaft von Rio langfristig eher Manuel Neuer und Toni Kroos beständig spielen - aber nun hat Löw am Rande des Clásicos zwischen Barcelona und Madrid auch seinen Kapitän in Frage gestellt. Neuer müsse sich nun mit Marc-André ter Stegen um den Platz im Tor der Nationalmannschaft duellieren, sagte Löw sinngemäß. Denn: "In diesem Jahr haben wir einen kleinen Neubeginn."

Das war massiv untertrieben, denn die Nationalmannschaft hat nun keinen kleinen, sondern einen echten Neubeginn. Das überrascht umso mehr, als Löw stets dazu neigte, verdienten Spielern zumindest einen Platz im Kader zu geben. Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger waren auch dann noch Teil des Teams, als ihre sportlichen Leistungen das schon lange nicht mehr rechtfertigten. Der Gedanke dahinter: Durch ihre Erfahrung geben sie den anderen Sicherheit. Ein Podolski auf der Bank und im Gefüge bringt mir mehr als ein Christian Träsch - das war Löws Ansatz.

Und auch davon hat sich der Bundestrainer nun urplötzlich verabschiedet - schließlich hat er Müller, Hummels und Boateng einfach rausgeschmissen. Die Vorstellung, dass einer von diesen dreien bei der EM 2020 noch als emotionale Unterstützung oder als erfahrene Stütze mitkommt, ist nach den Worten des Bundestrainers absurd. "Ich danke Mats, Jérôme und Thomas für die vielen erfolgreichen, außergewöhnlichen und einmaligen gemeinsamen Jahre", lässt sich Löw zitieren. Übersetzt: Hier habt ihr eure Blumen, alles Gute für die berufliche Zukunft.

Man redet hier nicht von irgendwelchen Nationalspielern. Alle drei waren Stammspieler bei der WM 2014, Boateng war dabei der beste Spieler des Finales. Thomas Müller wurde 2010 Torschützenkönig in Südafrika, grüßte seine Oma und ist erst 29 Jahre alt. Miroslav Klose war übrigens 36, als er 2014 im Halbfinale gegen Brasilien WM-Rekord-Torschütze wurde. Mit 16 Treffern, Müller hat aktuell zehn.

Hinter der Pressemitteilung von Dienstag steckt also nicht weniger als eine Neuerfindung des Bundestrainers. Eine Neuerfindung, bei der man sich fragt, warum sie gerade zu diesem Zeitpunkt stattfindet und warum sie mit der erwähnten Radikalität erfolgen muss. Das vorbereitete, lobende Statement von DFB-Präsident Reinhard Grindel deutet jedenfalls darauf hin, dass die Führung des Deutschen Fußball-Bundes, die Löw mit der Vertragsverlängerung vor der WM und auch in anderen Dingen mehr oder weniger einen Freifahrtschein ausgestellt hatte, nun genauer auf ihren wichtigsten Angestellten guckt.

Sportlich hat sich das Ende des Trios angedeutet. Dieses ist auch nachvollziehbar, aber die Art und Weise, wie Löw es un vollzogen hat, könnte Nachbeben erzeugen. Boateng äußerte sich auf seinem Twitter-Kanal versöhnlich, sagt aber auch deutlich, dass er sich einen anderen Abschied gewünscht hätte. Mats Hummels und Thomas Müller haben noch nichts gesagt - Hummels präsentiert sich in den sozialen Medien übrigens lieber im Deutschland-Dress als in den Farben des FC Bayern. Und welche Farbe das Gesicht von Uli Hoeneß annehmen wird, das mag man sich mit Blick auf seine Gesundheit kaum vorstellen.

Ein halbwegs sauberer Abschied, wie ihn Schweinsteiger und Podolski bekamen, sieht jedenfalls anders aus. Löw hat sich dennoch dafür entschieden. Und diesmal kann er seinen Entschluss nicht nach fünf Monaten wieder komplett über den Haufen werfen.

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