Dirk Gieselmann
Guten Morgen, liebe Fans,
ich heiße Dirk Gieselmann, dafür stehe ich mit meinem Namen. Und ich sag mal so: Herzlich willkommen zu dieser Weltmeisterschaft. Obwohl ich natürlich nicht der Veranstalter bin und aus Imagegründen bitte nicht mit ihm verwechselt werden möchte.
Vielleicht wäre es passender das zu sagen, was einmal, vor vielen, vielen Jahren, in einer anderen Zeit, ein längst verblasster Druide sagte. Denn das passt doch immer noch am besten, wenn man gar nicht weiß, was kommt, und man dennoch so etwas ähnliches wie Vorfreude empfinden möchte. Die Vorfreude aufs Leben an sich, denn das ist ja alles was wir haben.
Schaun mer mal, sagte er.
Also schaun mer mal, liebe Fans.
Dirk Gieselmann
Wir sehen Marvin Plattenhardt jubeln, er weiß noch nicht, worüber
Eine Weltmeisterschaft ist ja, zumindest war sie das bislang, so etwas wie die großen Ferien, die wir als Kinder erlebten. Damals, als wir noch staunen konnten und grundlos froh sein wie junge Hunde. War das herrlich, als man noch keine Ahnung hatte. In diesen Urzustand kann, wenn wir es zulassen, die Weltmeisterschaft uns zurückversetzen.
Sie liegt nun wieder vor uns als ein großer Raum, leer und zugleich voll. Voll von Geistern aus der Vergangenheit und Zukunft, ein Andi Brehme springt, randvoll von Glück, durch diesen Raum, bis Rudi und Klinsi ihn unter sich begraben, wieder und wieder. In einer Ecke kauert Oliver Kahn und scheitert am Versuch, zu weinen. Wir sehen aber auch schon Marvin Plattenhardt jubeln, er weiß noch nicht, worüber, sehen zugleich Mesut Özil melancholisch seine Schuhe zubinden, ein Ritter von der traurigen Gestalt. Wir sehen freundliche und unfreundliche Geister in diesem Raum, Körbe ungepflückter Früchte und Mondraketen, die erst gebaut werden müssen, in einer sitzt schon ein durchsichtiger Joachim Löw und macht Brumm-Brumm.
Es ist ein herrliches Chaos der Erinnerungen und der Träume. Was war, kann wieder werden. Oder auch ganz anders sein.
Wie gesagt: Schaun mer mal.
Dirk Gieselmann
Gibt es nichts Wichtigeres, in diesen Zeiten?
Die Weltmeisterschaft liegt vor uns als Ausnahmezustand, eine Möglichkeitswolke, eine Verheißung und Drohung, als Sieg und Niederlage zugleich, ein einziges riesiges Potenzial für alles, was drin steckt in diesem herrlichen Sport. Wir können diesen Raum jetzt nicht vermessen, nicht in Metern, nicht in Minuten oder Resultaten, er scheint unendlich, ohne Wände und Decke, bis zum Finale und darüber hinaus.
Wir stehen ergriffen an der Schwelle dieses Raums und stellen uns mit gewollter Energie vor, was darin geschehen wird. Wir spielen die Weltmeisterschaft in Gedanken durch, siegen, verlieren und beginnen zu ahnen, was wir hoffen und was wir fürchten, ja, wer wir selbst eigentlich sind, als Menschen, die sich allen Ernstes auf ein Fußballturnier freuen. Gibt es nichts Wichtigeres, in diesen Zeiten?
Das zwar schon, jaja, aber es spielt jetzt überhaupt keine Rolle. So wenig wie der Ozean eine Rolle spielt, wenn man sich ein Floß gebaut hat und damit auf den See hinausfährt, auf der Suche nach dem großen weißen Wal und dem Ende des Sommers.
Geben wir es ruhig zu: Wir sind jetzt wieder Kinder in den großen Ferien. Noch einmal: Herzlich willkommen.
Dirk Gieselmann
Wer hätte gedacht, dass Kevin Großkreuz sich Weltmeister nennen dürfte?
Unser Geist weitet sich nun, beinah ist es, als würden unsere Köpfe selbst größer, damit alles Denkbare hineinpasst. Und doch wissen wir nicht im Geringsten, was uns bevorsteht - immerhin das teilen wir mit Plattenhardt.
Wir fragen uns: Was steht uns bevor? Als wäre es nur ein schwerer Schrank, ein dicker Mensch in der Schlange, ein falsch geparktes Auto, ein vierschrötiger Vorstopper aus Peru. Aber es ist das immer noch und immer wieder Unbegreifliche: die Weltmeisterschaft. Der Raum, an dessen Schwelle wir heute Morgen stehen, ist noch beinah dunkel, durch die Schlitze in der Jalousie dringt aber eine Ahnung des gleißenden Lichts. Schlafen wir noch? Träumen wir etwa? Ja. Wir träumen uns nach gestern und nach morgen. Wir nennen es Erinnerung und Hoffnung.
Wer hätte, als das Turnier von 2014 bevorstand, geahnt, dass Deutschland Brasilien 7:1 schlagen würde? Dass es Mario Götze sein würde, der fünf Tage später das entscheidende Tor im Endspiel schießen würde? Dass Kevin Großkreutz sich je würde Weltmeister nennen dürfen? Wohl niemand. Und doch alle. Wir hatten doch fast immer an sie geglaubt.
Noch immer kommen uns diese Erinnerungen wie Träume vor. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Und es hat nichts gegeben, was es nicht geben wird. Wir stehen an der Schwelle des unendlichen Raums und lauschen hinein. So klingt das riesige Potenzial, die Möglichkeitswolke, wie das Jubeln von Massen, die bald zusammenfinden werden, ein entferntes Rauschen, wie ein Jahrmarkt von morgen. Noch liegt dieser Raum im Dunkeln. Doch die zwanzig Sonnen über Moskau dringen bereits durch die Ritzen. Der Ausnahmezustand wird jetzt gleich ausgerufen. Wir rufen es ab, das Potenzial. Wer sich traut, reißt die Jalousien hoch. Schaun mer mal.
Dirk Gieselmann
Der Zirkus geht los, sagt Papa
Aber was drücke ich mich hier so geschwollen aus, liebe Fans? Man kann das auch ganz anders sagen. So wie mein lieber, alter Vater gestern Abend am Telefon.
„Morgen“, sagte er, „geht ja dieser Zirkus los.“
Und es klang für einen Moment, als meinte er wirklich den Zirkus, der im Sommer auf dem Schotterplatz vor der Dorfschule sein Zelt aufschlägt. Der frustrierte Clown mit der verwischten Schminke im Gesicht raucht eine Filterlose vor seinem Wohnwagen, zwei Kamele stehen, am Fahrradständer festgebunden, in der Sonne, fressen die Rhododendren ab und wissen auch nicht, was das alles hier soll.
Und dennoch: Im Wort Zirkus steckt immer auch das Wort Zirkus. Ein Versprechen darauf, dass etwas passiert, was sonst nicht passiert. Und sei es, dass dem Clown beim Jonglieren ein Teller runterfällt.
Also, ich geh hin. Es ist ja sonst nichts los. Und meinen Vater, den nehm ich mit.
Dirk Gieselmann
Die siebzehnte WM
Noch ein Wort zu meinem Vater. Er ist jetzt 81. Das ist seine siebzehnte WM. Er lag einmal vor dem Röhrenradio, träumend, bangend, fiebernd, jetzt sitzt er vor dem Plasmabildschirm, den er immer noch mit höchster Skepsis und aller gebotenen Vorsicht einschaltet, weil er insgeheim fürchtet, dieser moderne Apparat könnte ihn in die Zukunft saugen.
Denn als Zukunft kommt ihm die bizarre Gegenwart vor, als etwas, das einmal eintreten wird, wenn es so hart kommt, wie er befürchtet. Beim Einschalten hofft er, endlich einmal Gerd Müller wiederzusehen, wie er sich auf dem Bierdeckel dreht, wie er abstaubt und jubelt wie ein possierliches Tierchen, das im Lotto gewonnen hat, wie damals in München. Doch er sieht Oliver Bierhoff Interviews im Spa-Bereich des Mannschaftshotels geben.
Der Fußball hat sich verändert. Nicht unbedingt zum Guten, findet mein Vater.
Mein Vater, der Zeitzeuge, dem ich die schönsten Erinnerungen an Weltmeisterschaften zu verdanken habe, die ich selbst nicht erleben durfte, er ist, so kommt es mir manchmal vor, dem Fußball abhanden gekommen.
Das ist keine so gute Nachricht für den Fußball. Es wäre schön, wenn die Fifa ihn auf der Eröffnungsfeier persönlich zu diesem Turnier willkommen heißen würde. Sein Name ist Kurt Gieselmann, nur für den Fall.
Dirk Gieselmann
Hänschen und Neymar
Mein Vater empfand noch eine Nähe zu seinen Helden, die keine Instagram-Offensive je wird herstellen können. Hans Schäfer, einen der Helden von Bern, den Älteren unter Ihnen wird der Name noch etwas sagen, nannte er „Hänschen“, wie ein Familienmitglied. Er erzählte von seiner Flanke im Wankdorf, der Friseurlehre, die „Hänschen“ absolvierte, als er selbst Bäckerlehrling war, die Lebenswege liefen parallel und nicht in getrennten Universen wie heute.
Wenn mein Sohn, sieben Jahre alt, von Neymar schwärmt, dann klingt er, als redete er von einem Alien.
Und doch lieben beide, mein Vater und mein Sohn, den Fußball auf ihre eigene Weise. Verrückt ist das. Man müsste es erforschen.
Dirk Gieselmann
Dirty Dancing
Freue ich mich denn, als Mensch in der Mitte zwischen Vater und Sohn, als fast Vierzigjähriger, der endgültig die Hoffnung aufgegeben hat, auch einmal für die WM nominiert zu werden, aber immer noch nicht ganz darüber hinweg ist, der neidvoll auf diesen sogenannten Plattenhardt schaut und denkt, was hat der, was ich nicht habe, also, freue ich mich denn auf dieses Turnier, liebe Fans?
Ja gut, äh, ich bin bereit dazu. Trotz allem. Ich sag mal: Ich wäre dankbar, wenn mir jemand diesen schweren Rucksack voller Bedenken, Überdruss und altersbedingter Beherrschtheit endlich mal abnehmen könnte, er schneidet gewaltig in die Schultern. Ich würde gern mal wieder tanzen. Wenn es sein muss, sogar mit Leuten, die beim Bäcker Weltmeisterbrötchen kaufen.
Dirk Gieselmann
Papa ist so lieb
Apropos Weltmeisterbrötchen. Gestern kaufte ich mir eigens für dieses Turnier einen neuen Fernseher. Einen von diesen Plasmadingern, von denen mein Vater, ich berichtete, glaubt, man könne damit in die Zukunft reisen. Als ich nun mit dem Riesengerät nach Hause zurückkehrte, brachen meine Kinder in Begeisterungsstürme aus, die ich, wenn ich ihnen, wie sonst immer, etwas pädagogisch überaus Wertvolles mitbringe, so noch nie erlebt habe. Das stimmte mich nachdenklich, aber ich wollte die Bombenstimmung auch nicht ruinieren, also sagte ich: „Na, gut. Ihr dürft Sandmännchen gucken.“Als ich nach stundenlanger Schwerstarbeit und einer Kaskade von Flüchen, die hier nicht zitiert werden sollen, den verdammten Mist-Apparat endlich zum Laufen gebracht hatte, lagen meine Kinder bereits im Bett. Tief enttäuscht von den technischen Fähigkeiten ihres Vaters starrten sie an die Decke und murmelten vor sich hin wie frustrierte Arbeitnehmer.
„Ok“, sagte ich. „Ihr dürft noch fünf Minuten schauen.“ Wieder Jubelstürme. „Papa, wir haben Dich so lieb!“, riefen die beiden, ich befürchte aber, sie meinten gar nicht mich, sondern den Fernseher. Ich wählte, da das Sandmännchen längst vorüber war, einen Tierfilm aus. Das erste Bild, das auf dem neuen Fernseher erschien, zeigte einen Löwen, der ein Zebra reißt.
Ich weiß nicht, ob das ein gutes Omen für diese WM ist.
Dirk Gieselmann
Vorfreude für Fortgeschrittene
Doch zurück zu der Frage, liebe Fans, ob ich mich eigentlich freue. Nun. Beim Ausblick auf das Eröffnungsspiel Russland gegen Saudi-Arabien fühle ich mich wie ein Sechsjähriger sich fühlen muss, der ganz unverhofft zum Geburtstag eingeladen wurde, zum Geburtstag eines Kindes, zu dem er noch nie Kontakt hatte, weil es von seinen Eltern im SUV zur Schule gebracht wird, nach der letzten Stunde sofort wieder hinter verdunkelten Scheiben verschwindet und davonfährt, niemand weiß, wohin. Auf dem Schulhof aber geht das Gerücht um, es besitze die kostbarsten Spielsachen und ein eigenes Spaßbad im Garten. Es habe auch statt einer einfachen Katze einen Geparden als Haustier. Wenn ich die Einladungskarte aufklappe, kommt Musik raus.
Vielleicht ist all das wahr, was man sich erzählt, und ich werde es gleich mit eigenen Augen sehen, wenn der Geburtstag dieses fremden, faszinierenden Kindes aus dem SUV endlich beginnt. Vielleicht auch nicht. Oder es ist wahr, aber ich möchte dennoch sofort von meinen Eltern abgeholt werden, aufgrund eines mir bislang unbekannten Gefühls der existenziellen Leere.
Soll ich hingehen, liebe Fans? Ich weiß es nicht, ich weiß es einfach nicht.
Das nur zu der Frage, ob ich mich freue.
Dirk Gieselmann
Salmrohr gegen Wattenscheid
Es würde mir die Entscheidung wirklich erleichtern, liebe Fans, wenn ich wüsste, dass wir da zusammen hingehen. Dass wir, was auch immer geschieht, das Beste daraus machen. Vielleicht können wir auch ein gemeinsames Geschenk besorgen, denn einem Kind, das mutmaßlich einen Geparden besitzt, kann ich von meinem mickrigen Taschengeld allein bestimmt keine Freude machen.
Ach, Mann.
Ich wünschte wirklich, ich wäre stattdessen beim dicken Sven eingeladen. Wir gehen zum Bowlen wie immer, trinken Limo, essen Pommes und machen Witze über voltigierende Mädchen. Ich wünschte, es wäre nicht Russland gegen Saudi-Arabien, was mir bevorsteht, sondern Salmrohr gegen Wattenscheid, erste Runde Pokal.
Da gehöre ich hin, dem bin ich gewachsen.
Dirk Gieselmann
Kindergeburtstag mit Robbie
Robbie Williams hat, wie ich soeben lese, die Einladung angenommen. Der Mann hat Erfahrung auf Kindergeburtstagen aller Art, sowohl auf der Bowlingbahn als auch auf der Yacht vor Ibiza. Für heute hat er sogar ein Ständchen einstudiert.
Dies sei allerdings eine „Schande“, findet Rebecca Harms, Europa-Abgeordnete der Grünen. Sie habe Williams eine Liste geschickt, auf der die Fälle von 158 politischen Gefangenen dokumentiert sind, die derzeit in russischen Gefängnissen sitzen.
Ich nehme an, dass Williams dennoch singt. Dass Putin dazu mit dem Fuß wippt. Dass diese WM sich vollziehen wird, und zwar nicht im Dunkeln. Es ist zu spät für ein Moratorium, das Turnier nähert sich mit kalter Entschlossenheit.
„Lothar Matthäus tippt alle 64 Spiele“, lese ich außerdem.
158 Gefangene, 64 Spiele, in einem Land. Es ist ein Schock der Gleichzeitigkeit des Unvereinbaren. Hoffentlich bricht er uns nicht das Rückgrat.
Dirk Gieselmann
Putin und mein Schwager
Mein Schwager hat angekündigt, diese WM zu boykottieren, wegen der prekären Menschenrechtslage in Russland. Ich finde das sehr ehrenhaft und aufrecht, zugleich aber macht es mich traurig. Mein Schwager liebt den Fußball über alles, er ist ein zu emotionalen Extremen neigender Gladbach-Anhänger. Einmal hörten die Nachbarn ihn im Garten schreien, sie eilten hinüber, weil sie befürchteten, er habe sich beim Holzhacken die Hand abgetrennt. Er aber hatte im Radio die Nachricht vom Führungstreffer gegen den 1. FC Köln gehört.
Nun wird er nur aus der Zeitung erfahren, wenn Matthias Ginter am Vortag die deutsche Nationalmannschaft zum Titel geschossen hat. Er wird, während das Finale läuft, mit grimmiger Entschlossenheit den Rasen mähen, die Garage streichen, die Hecke schneiden, er wird es diesem Putin zeigen.
Putin aber wird sich nicht in die Knie zwingen lassen. Am Ende wird nur mein Schwager als Mann, der die WM verpasste, in kein Geschichtsbuch eingehen. Die Machtverhältnisse auf diesem Planeten sind ungerecht verteilt, finde ich.
Dirk Gieselmann
Aber, und das zu unser aller Trost: Am Ende dieser Weltmeisterschaft wird der Garten meines Schwagers schöner sein als Putins.
Dirk Gieselmann
Apropos Garten, liebe Fans, und damit zu etwas Erfreulichem. Es gibt ein Foto, auf dem der junge Berti Vogts, es muss kurz nach der WM 1974 gewesen sein, verträumt an einer Rose schnuppert. Ich darf das Bild aus rechtlichen Gründen leider nicht zeigen. Aber ist es nicht ohnehin viel schöner, es sich vorzustellen?
Gönnen Sie sich die kleine Meditation im sonst so rauhen Alltag. Stellen Sie sich vor, wie Berti Vogts an einer Rose schnuppert, im seidenen Lichte eines längst vergangenen Sommers. Und von irgendwo her, vielleicht aus der frisch gestrichenen Garage meines Schwagers, dringt dieses Lied.
Gönnen Sie sich die kleine Meditation im sonst so rauhen Alltag. Stellen Sie sich vor, wie Berti Vogts an einer Rose schnuppert, im seidenen Lichte eines längst vergangenen Sommers. Und von irgendwo her, vielleicht aus der frisch gestrichenen Garage meines Schwagers, dringt dieses Lied.