Süddeutsche Zeitung

Champions-League-Finale 2005:Sechs Minuten Wahnsinn

Vor 15 Jahren liegt der FC Liverpool im Champions-League-Finale 0:3 gegen Milan zurück - und siegt trotzdem. Erinnerungen an eine denkwürdige Fußballnacht.

Von Lisa Sonnabend

Es ist der 25. Mai 2005, als sich sechs denkwürdige Fußballminuten ereignen. Im Atatürk-Stadion in Istanbul treten der AC Mailand und der FC Liverpool an zum Champions-League-Finale, die Italiener führen nach der ersten Halbzeit bereits 3:0. Doch dann beginnt die 54. Minute, es folgen "sechs Minuten des Wahnsinns", wie der damalige Milan-Trainer Carlo Ancelotti später sagen wird. Liverpool schießt drei Tore - und gewinnt die eigentlich schon verloren geglaubte Partie schließlich im Elfmeterschießen. Was ist passiert? Erinnerungen an eine außergewöhnliche Fußballnacht.

Vor dem Anpfiff sind die Rollen in diesem Champions-League-Endspiel klar verteilt. Der AC Mailand gilt als großer Favorit, zwei Jahre zuvor haben die Norditaliener bereits den Titel geholt, auf dem Platz stehen Spieler wie Kapitän Paolo Maldini, der schon viermal die Champions League gewonnen hat, der legendäre Spielgestalter Andrea Pirlo, der brillante Clarence Seedorf, das junge Talent Kaká und der treffsichere Torjäger Andrij Schewtschenko. Liverpool steht erstmals nach der Stadionkatastrophe von Heysel 1985 wieder im Endspiel, mit knappen Siegen gegen Juventus Turin und Chelsea hat die Mannschaft sich dorthin gemogelt, in der Liga ist das Team von Trainer Rafael Benítez in dieser Saison nur Fünfter geworden.

Steve Gerrard, der Kapitän der Reds, sagt vor der Partie: "Auch Underdogs sind bisweilen giftig und gute Wachhunde." Doch nach nur 52 Sekunden fällt bereits das erste Tor. Pirlo tritt einen Freistoß, Maldini befördert den Ball ins Tor. Liverpool muss dann auch noch früh wechseln, Harry Kewell verletzt sich an der Leiste. Die Engländer spielen passiv, verunsichert, ja fast erstarrt.

Milan kommt immer wieder zu Kontern. Hernán Crespo trifft nach herrlichen Spielzügen in der 39. und 44. Minute. Es steht 3:0, es ist eine Vorführung. Die Mailänder nehmen sich in den Arm, die Liverpooler trotten in die Kabine. Verteidiger Jamie Carragher schreibt Jahre später in seiner Biographie über diesen Moment: "Als ich auf die Umkleide zuging, litt ich unter einer furchtbaren Kombination aus Verzweiflung und Demütigung."

Als die Reds zurück auf das Spielfeld kommen, erheben sich die tausenden mitgereisten Fans. Sie singen aus voller Kehle die Club-Hymne "You'll never walk alone". Liverpool ist plötzlich nicht mehr wiederzuerkennen. Die Fußballer sind bissig, sie kämpfen.

Das liegt auch an Trainer Benítez. Denn der hat in der Halbzeitpause eine Idee gehabt. Er wechselt den angeschlagenen Steve Finnan aus, bringt den Deutschen Dietmar Hamann und stellt von einem 4-4-1-1-System auf ein 3-5-2 um. Nun bekommt Liverpool Pirlo unter Kontrolle, der italienische Regisseur hat fortan kaum Anspielstationen mehr.

Die legendäre Aufholjagd beginnt. In der 54. Spielminute köpfelt Kapitän Gerrard den Ball ins Tor, er brüllt, er reißt die Arme hoch und signalisiert den Teamkollegen: Wir können das noch schaffen! Zwei Minuten später überlistet Vladimir Smicer mit einem platzierten Distanzschuss Milans Torhüter Dida. Nur noch 2:3.

In der 60. Minute fällt Gerrard im Strafraum, der Schiedsrichter Manuel González gibt Elfmeter. Xabi Alonso tritt an, scheitert an Dida - doch der Spanier kommt zum Nachschuss. Tatsächlich der Ausgleich. Die Teamkollegen werfen sich auf Alonso.

Liverpool zieht sich nun etwas zurück, es kommt zur Verlängerung. Wieder scheint das Spiel fast verloren, als in der 117. Minute Milans Angreifer Schewtschenko zum Abschluss kommt. Liverpools Torhüter Jerzy Dudek wehrt den Ball ab, er prallt ab - und erneut ist der Ukrainer zur Stelle. Ganz allein, direkt vor dem Tor. Doch irgendwie lenkt Dudek die Kugel noch über die Latte. "Ich werde nie begreifen, wie er diesen Ball halten konnte", sagt Schewtschenko danach.

Es kommt zum Elfmeterschießen, Dudek tänzelt auf der Linie herum - und hält wieder stark. Milan-Mittelfeldspieler Serginho verschießt, dann wehrt der Pole die Schüsse von Pirlo und schließlich einen schwach getretenen Schuss von Schewtschenko ab. Die Liverpooler Spieler stürmen los. Sie sind tatsächlich Champions-League-Sieger geworden.

Gerrard stemmt den schon verloren geglaubten Pokal in die Höhe. "Das ist ein wahnsinniger Moment", sagt er, "diesen Abend werde ich niemals vergessen." Es gibt Gerüchte zu dieser Zeit, Gerrard würde bald zu Chelsea wechseln. Doch wie kann der Mittelfeldspieler, der seine ganze Karriere bei seinem Herzensklub verbracht hat, nach so einem Spiel Liverpool verlassen? Er bleibt.

Es ist der fünfte Champions-League-Titel für Liverpool, der erste nach 21 Jahren. Bei der Siegerparade säumen mehr als eine Million Anhänger die Straßen der Stadt. Den Pubs geht das Bier aus. Diego Maradona, der das Spiel im Stadion verfolgt hat, sagt: "Liverpool hat gezeigt, dass Wunder existieren. Diese Partie wird ewig bleiben."

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