Meistertitel des FC Liverpool:Der Hunger ist endlich gestillt

Premier League - Liverpool fans celebrate winning the Premier League

Nach 30 Jahren des Wartens ist Liverpool wieder englischer Meister - und die Fans sind aus dem Häuschen.

(Foto: REUTERS)

Liverpool kennt alle Freudentaumel und Tränensturzbäche des Fußballs. Die lang ersehnte Premier-League-Krone ist für die Reds wohl noch wichtiger als der Sieg in der Champions League.

Von Barbara Klimke

Tief in der Nacht, als noch immer Feuerwerkskörper und Leuchtgeschosse den Himmel über Anfield rot tünchten, tippte auch einer der berühmtesten vier Söhne der Stadt seine Botschaft in die Tasten. "Glückwunsch Liverpool Nummer eins, ich sende euch Peace und Love", schrieb Ringo Starr auf Twitter. Nur diesen einen Satz, kurz, prägnant, versehen mit ein paar bunten Mini-Piktogrammen, Herz, Stern, Kirschen, Noten und Triolen. Verblüffend banal, aber es war der entscheidende Hinweis eines Drummers: eines Mannes, der den Beat der Stadt wie kein anderer kennt und weiß, welche Akkorde dreißig lange Jahre gefehlt hatten in der Melodie am River Mersey.

Liverpool ist eine Fußballmetropole, immer schon, wie die Bürger, die Scousers, sagen, spätestens seit 1878, als der erste Klub gegründet wurde. Doch es ist auch die Stadt des Merseybeat, der die Kultur und das Lebensgefühl einer Epoche revolutionierte. In der großen Zeit der Beat Bands der 1960er-Jahre, von denen es Hunderte gab, gingen Skiffle, Titel und Pokal stets Hand in Hand. Wer also könnte befugter sein als Ringo Starr, 79, der Schlagzeuger der Beatles, des berühmtesten Quartetts von allen, um festzustellen, dass das Herz von Liverpool nun endlich wieder im richtigen Rhythmus wummert?

Dutzende von Fans des FC Liverpool hatten sich vor dem leeren, dunklen Stadion versammelt, als - in Abwesenheit von Trainer Jürgen Klopp samt allen Spielern - der Titel erobert wurde. Denn die Meisterschaftsentscheidung fiel vier Fahrstunden weiter südlich in London, wo unter Ausschluss der Öffentlichkeit der FC Chelsea den Tabellenzweiten Manchester City 2:1 schlug. Liverpool hatte schon tags zuvor Crystal Palace im ebenfalls zuschauerfreien Anfield mit 4:0 überrollt und war auf 23 Punkte Vorsprung enteilt. Nun, durch Citys Niederlage, war das Warten vorbei.

Eigentlich dürfen mehrere Personen sich in Großbritannien erst im Juli wieder treffen

Binnen einer Stunde verließen Tausende in Liverpool die Häuser, sie strömten, singend und Bengalos zündend, durch den Stanley Park zur Heimstatt ihres Klubs, Kinder auf den Schultern, und Hunde an der Leine führend, wie in den Fernsehbildern der BBC zu sehen ist. Friedliche Feiern, die gleichwohl den Unmut der Polizei von Merseyside nach sich zogen, die Infektionsschutzbestimmungen und elementare Gesundheitsregeln missachtet sah.

Der Polizeichef rief die Fans auf, den Rat von Trainer Klopp zu befolgen, zuhause zu bleiben und die 19. Meisterschaft "in Sicherheit und mit Mitgliedern des eigenen Hausstandes" zu begehen. In England ist eine Zusammenkunft mehrerer Personen erst von Juli an wieder erlaubt. Mahnend wurde daran erinnert, dass die Region Liverpool "überproportional von der Covid-19-Pandemie betroffen ist". Viele blieben tatsächlich zu Hause, im Garten, vor dem Fernseher, statt in Sichtweite der berühmten Liverpool-Tribüne, The Kop. Auch der Bürgermeister, Steve Rotheram, der sich in der Times zur lebenslangen Verbundenheit mit dem FC Liverpool bekannte, litt Qualen. Nach dreißig Jahren des Hoffens, sagte er, empfinde er eine solche Meisterschaft auf Distanz "wie einen Schlag in den Solarplexus".

So war es eine Nacht, in der vieles wie in einem breiten Strom zusammenfloss an dem Ort, der Höhen und tragische Abgründe des Fußballs kennt, der auch mit der Hillsborough-Katastrophe leben musste.

Erfüllung und Entbehrung, Vergangenheit und Gegenwart, Freudenausbrüche und Tränensturzbäche: Selbst Jürgen Klopp wurde überwältigt von den Emotionen, deren Urheber er maßgeblich selber war, weil sein Temperament und Trainersachverstand, seine Hingabe und Akribie seit seiner Ankunft in Anfield vor fünf Jahren auf dieses Ziel gerichtet waren. Ein erstes Interview musste Klopp abbrechen, weil ihm, diesem Rhetorik-Genie aus dem Schwarzwald, die Stimme versagte. Eine Mannschaftsansprache kam ebenfalls nicht zustande, "weil ich zu flennen angefangen habe", wie er anderntags fröhlich bei einer Video-Pressekonferenz berichtete.

Klopp beordert seine Spieler Donnerstagnacht in ein Golfplatz-Hotel

Den 19. Titel, den ersten, seit 1990 Kenny Dalglish eine Mannschaft um Bruce Grobbelaar und Alan Hansen zum Triumph geführt hatte, widmete er allen, die am Ruhm des Klubs mitgewirkt hatten: also gewissermaßen dem ganzen Erdkreis, urbi et orbi. Erwähnung fanden neben den Liverpudlians, den Fans und seinem Team auch die Meistertrainer Dalglish, Bill Shankly, Bob Paisley, Joe Fagan sowie der treue Steven Gerrard, der seine ganze Karriere für den Verein die Knochen hingehalten hatte und dem der Premier-League-Titel dennoch verwehrt blieb.

Auch aus diesem Grund hatte Klopp den ursprünglichen Plan verworfen, allein auf der Couch den Ausgang des Chelsea-Matches im fernen London abzuwarten. Er beorderte seine Spieler am Donnerstagabend in ein Golfplatz-Hotel in den Dünen von Formby, nördlich von Liverpool an der Irischen See. Ein Pflichttermin, wie er erklärte: "Es müssen alle da sein: Denn wer allein bleibt, der wird es den Rest seines Lebens bereuen."

Auch wenn Klopp den Hunger der Hafenstadt im Norden Englands nach Silberpokalen schon im letzten Jahr stillte mit dem Sieg der Champions League, auch wenn der FC Liverpool seit der Jahrtausendwende sechs Mal im Finale eines europäischen Finales stand: Die Herzrhythmusstörungen dieser Fußballmetropole konnte nur der nationale Titel kurieren. Seine Rivalen sucht Liverpool nicht in Madrid, Mailand oder München: Die härteste Konkurrenz hat der Klub stets in London oder Manchester gefunden. Für Phil Thompson, einen in Liverpool geborenen Abwehrspieler der 1970er und 1980er Jahre, der sieben Titel für die Reds gewann, ist die Premier-League-Krone der "ultimative Preis": Trainer wie Rafael Benítez, Gérard Houllier oder Brendan Rodgers waren nahe am Titel, stellte er klar: "Aber nahe zu sein, ist nicht genug."

Auch Klopp war nah dran im vorigen Jahr, als Liverpool mit einem Punkt Rückstand und nur einer Saisonniederlage der beste Meisterschaftszweite der Geschichte der englischen Liga hinter Manchester City wurde. Diese Enttäuschung habe das Team angespornt, sagte Liverpools Kapitän Jordan Henderson. Aber zu verdanken sei der Titel nur einem, Jürgen Klopp: "Ich will den anderen Trainern nicht zu nahetreten, aber vom Moment an, als er durch die Tür kam, hat sich alles verändert." Klopp sei es gewesen, der Glauben, Vertrauen und Selbstbewusstsein verlieh. Der die Melodie hörte, den Rhythmus des Merseybeats spürte und weitergab. Jetzt wummert es wieder. Alles im Lot.

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