Meisterschaft mit Jürgen Klopp:Liverpool leuchtet bis in alle Ewigkeit

Der Klub, der 30 Jahre auf den Meistertitel warten musste, feiert emotional wie nie. Liverpool huldigt einer großen Mannschaft - und einem schluchzenden Coach.

Von Sven Haist, Liverpool

So nahe kam der FC Liverpool dem Himmel noch nie. Sogar die Sterne schienen greifbar zu sein. Hoch oben auf der Kulttribüne The Kop, dem Heiligtum der Anfield Road, wo normalerweise Fans ihren Platz haben, fanden sich erstmals in der 128 Jahre langen Klubhistorie die Spieler und das Trainerteam um Jürgen Klopp auf der provisorisch hingezimmerten Bühne zur Siegerehrung ein.

Die Scheinwerfer im Stadion wurden ausgeschalten, nur noch ein paar Laserstrahlen setzten das Podium ins Rampenlicht. Seit dem 1. Mai 1990, als ein gewisser schottischer Abwehrrecke namens Alan Hansen die Ligatrophäe für Liverpool entgegennahm, hat der stolze Klub darauf gewartet, den englischen Meisterpokal wieder zu erhalten. Und nun am 22. Juli 2020 - ewige 11 040 Tage später - fand das Warten tatsächlich ein Ende.

Als letzter Spieler lief Kapitän Jordan Henderson im leeren Stadion die Treppe hinterm Tor hinauf. Stufe um Stufe, unter dem immer lauter werdenden Jubel der Teamkollegen. Die Trophäe war schon in Reichweite, als Klubikone Kenny Dalglish ihn in den Arm nahm. Als Spieler und Spielertrainer gewann Dalglish sagenhafte neun Meisterschaften mit Liverpool, darunter den bis hierhin letzten Titel vor drei Jahrzehnten. Bei seiner einjährigen Rückkehr zu den Reds verpflichtete Dalglish im Sommer 2011 den jungen Henderson aus Sunderland. Auch so eine Geschichte.

Erst dann war der Weg frei für Henderson zum 104 Zentimeter hohen, 25 Kilo schweren Pokal aus Sterling-Silber, den er kurz küsste - und um 22.44 Uhr Ortszeit in die Höhe riss. Rings herum tunkten Feuerwerkskörper, Lichtstrahler und Konfettikanonen den Horizont in die knallroten Vereinsfarben. Alle Augen richteten sich in die Ferne, manche Spieler schlossen die Augen. Und wer wollte, konnte mit ein bisschen Fantasie sehen, wie im Himmelskosmos des FC Liverpool, irgendwo zwischen Milchstraße und Großer Bär, der Stern dieser Mannschaft aufging und von nun an bis in alle Ewigkeit leuchten wird.

Mit seinem Telefon filmte Ian Rush, der Torjäger des Meisterteams 1990, die Einzigartigkeit des Erlebnisses, hinter seiner Gesichtsmaske konnte Dalglish die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sicher konnte er sich ja nie sein, dass er im Alter von 69 Jahren noch mal eine Meisterschaft seines Lieblingsklubs miterleben würde. In der Stunde der puren Freude gelang es nur Jürgen Klopp einigermaßen, nicht von den eigenen Gefühlen überwältigt zu werden.

Vor vier Wochen hatte es dem wortgewaltigen Trainer noch die Sprache verschlagen, als der 19. Ligatitel des Klubs feststand. Schluchzend brach Klopp ein Fernsehinterview ab, bevor die Öffentlichkeit seine Rührung so richtig zu sehen bekommen hätte. "Das ist ein großartiger Moment. Das bedeutet die Welt für mich und ich könnte nicht glücklicher sein", sagte Klopp. Mehrmals richtete er vom Spielfeld aus mit den Händen einen Dank an die Familie, die die Feierlichkeiten auf der Haupttribüne mitverfolgte.

Frühester Meister der Geschichte

In seiner Trainerkarriere musste Klopp häufig erst bitterste Niederlagen erleiden, bevor er danach die größten Erfolge feiern durfte. Den Titel in der Premier League verpasste er im Vorjahr mit seinem Team bei nur einer Niederlage als bester Zweiter um einen Punkt. Nun sind die Reds, die in dieser Saison alle Klubs mindestens einmal geschlagen haben, der früheste Meister der Historie (bei sieben ausstehenden Spielen): mit dem besten Ligastart (61 Punkte), dem zwischenzeitlich größten Vorsprung (25 Punkte), den meisten Heimsiegen hintereinander (24) und der höchsten Punktanzahl über 38 Spiele (110).

Innerhalb der vergangenen 14 Monate hat Liverpool neben der Champions League, der Klubweltmeisterschaft und dem Supercup nun die Premier League gewonnen. Die Dimension des Erfolgs: Champions of England, Champions of Europe, Champions of the World, Champions of the Super Cup - man könnte Liverpool momentan auch Champion of the Universe nennen. Klopp sagt: "Ich bin normalerweise keine Person, die Bilder braucht, aber ich werde ein Bild mit allen vier Trophäen machen."

Überall war beim kurzweiligen Meisterball gegen den FC Chelsea (den die Reds mit 5:3 gewannen, aber der nur am Rande interessierte) das Wort "Champion" zu lesen: auf dem Cover des Stadionhefts, auf der Rückseite der Titelshirts, auf der Gegengeraden des Stadions und natürlich auf den ausgelegten Fanbannern. Zehn Sekunden vor Abpfiff drehte sich Klopp zur Ersatzbank um und rief: "Genießt diesen Moment. Das ist eine sehr spezielle Nacht."

Draußen vor dem Stadion versammelten sich hunderte Anhänger, die Mitte der zweiten Halbzeit aus Anfield ein regelrechtes Fanfield machten - trotz der weiträumigen polizeilichen Absperrungen und allem Drängen des Vereins, aufgrund der Corona-Pandemie bitte zuhause zu bleiben. Im Siegerinterview appellierte Klopp an die Vernunft der Anhänger: "Trinkt, was Ihr wollt! Wenn dieser Scheißvirus vorbei ist, werden wir eine Party schmeißen." Normalerweise hören die Leute in Liverpool immer auf ihn, aber diesmal konnte selbst Klopp kaum etwas ausrichten. Am Donnerstagmorgen musste erst mal der Müll auf den Straßen rund ums Stadion zusammengekehrt werden.

Die halbstündige Zeremonie im Stadion, die hauptsächlich fürs Fernsehpublikum abgehalten wurde, war der kleine Vorgeschmack auf das, was bald ansteht beim FC Liverpool. Denn wenn eines Tages wieder offiziell gefeiert werden kann, wird nicht nur Anfield, sondern die ganze Stadt auf dem Kopf stehen.

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