Süddeutsche Zeitung

Frankreichs Meister:Lille bellt laut Richtung Paris

Mit einem Team von Unfertigen und Ausgemusterten durchbricht der OSC die Titel-Sammlung von PSG in der französischen Liga. Ein Hauptdarsteller ist im entscheidenden Moment auch wieder Renato Sanches.

Von Jonas Beckenkamp

Mitten in der Menschentraube in Rot und Blau purzelte auch Renato Sanches über den Rasen, er hatte sein Handy in der Hand, um alles auf Video festzuhalten. So viel Erinnerungskultur musste sein, denn es war tatsächlich ein historischer Moment für den Portugiesen und seine Mitspieler vom OSC Lille. Die Doggen, so der Spitzname des Klubs aus Nordfrankreich, sie bellen wieder - und zwar ganz schön laut.

Erstmals seit zehn Jahren heißt der Meister der Ligue 1 wieder Lille und es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass er eben nicht Paris Saint-Germain heißt. Der französische Dauersieger mit dem vielen Geld aus Katar, der in den vergangenen acht Jahren sieben Mal oben stand, ist entthront. Übertroffen von einem Verein, der seine eigene Heldengeschichte am Pfingstsonntag mit einem 2:1 (2:0) in Angers komplettierte. Da reichte PSG auch ein 2:0 in Brest nicht mehr, sodass Frankreich nun über einen Zentimetersieg staunt. 83 Punkte Lille, 82 Paris. Touché.

"Frankreichs Beste" teilte die Sportzeitung L'Equipe voller Anerkennung mit, vom Titelbild grinsen sie einem alle entgegen: Trainer Christophe Galtier, der frühere Bayern-Sorgenfall Sanches, Sturm-Wuchtling Burak Yilmaz (neben dem Kanadier Jonathan David Meister-Torschütze in Angers) und der Mannschaftsälteste Jose Fonte. Der 37-jährige Portugiese ist bei LOSC nicht nur der Mann fürs Kleinteilige in der Abwehr, sondern auch eine Art Kümmerer fürs Klima.

Sanches beweist seine Tauglichkeit

Der Triumph sei ein Werk "der Solidarität, des Talents und der harten Arbeit" stammelte der in Angers gesperrt verhinderte Kapitän in die Fernsehmikros. Es flossen Tränen, nicht nur bei ihm. Der weit gereiste Fonte und Sanches, zwei Generationen an portugiesischen Fußballern, haben sich in dieser verblüffenden Saison als Pfeiler des Erfolgs erwiesen. Wer noch einen Beweis gebraucht hatte, dass der frühere Münchner eben doch für den Spitzenfußball taugt, brauchte nur die Szene zum 1:0 betrachten.

Ein stampfender Antritt gegen mehrere Gegenspieler, Steilpass mit der Fußspitze, Sanches hat es seit seiner Ankunft in Lille 2019 vielen gezeigt. Der 23-Jährige, in München in Melancholie gescheitert, firmiert nun als Europameister sowie als Liga-Sieger in Portugal, Deutschland und Frankreich, wer hätte das gedacht. 23 Spiele, ein Treffer, drei Vorlagen, diese Bilanz wäre wohl noch opulenter ausgefallen, wenn ihn im Winter nicht eine Muskelverletzung gestoppt hätte.

Ob er nach seiner Sieger-Zigarre im Kreis der Kollegen in Lille weitermacht, ist freilich noch offen. Angeblich steht er längst in Kontakt zu Jose Mourinho, der ihn für sein nächstes Abenteuer als Coach bei AS Rom gewinnen möchte. Der gemeinsame Berater heißt Jorge Mendes, die Wege dürften also kurz sein. Andererseits: Mit Rom in den grauen Niederungen der Conference League kicken oder mit Lille in der Champions League - das sollte sich Sanches genau überlegen.

Im Winter verhinderte Lille den finanziellen Kollaps nur knapp

Sein Trainer Christophe Galtier hatte sich als behutsamer Förderer von Sanches erwiesen, ihm war die schwierige Vergangenheit des einstigen 35-Millionen-Missverständnisses der Bayern durchaus bewusst. Doch er ist bei allen Einzelbegabungen im stets austarierten Kollektiv Lilles auch ein Typ, der Gemeinschaftssinn fördert. Im Moment des allgemeinen Überschwangs hob er die Besonderheit der gesamten Leistung seiner Elf hervor - auch mit Blick auf die Übermacht aus der Hauptstadt.

"Das hier ist außergewöhnlich", sagte er, "um PSG über so eine lange Saison hinter sich zu lassen, braucht es herausragende Spieler." Und er schloss mit dem größtmöglichen Lob: "Sie sind die Helden dieser Geschichte." Und natürlich gehören zu einer solchen Erzählung auch eine Menge Konjunktive. Es hätte auch ganz anders laufen können. Erst im Winter schien Lille trotz sportlich bester Aussichten auseinanderzufallen.

Einen finanziellen Kollaps verhinderte man nur, indem der damalige Präsident, der Luxemburger Gerard Lopez, den Verein veräußerte. Lille sollte Rückzahlungen an Klub-Hauptanteilseigner Elliott leisten, konnte dies aber nicht. Die US-Fondsgesellschaft hatte 225 Millionen Euro in den OSC gespeist und sah ihre Rendite schwinden. Erst mit der Hilfe eines neuen Investmentfonds (Merlyn Partners) konnten die Schulden übernommen und der Ausverkauf verhindert werden. Der Präsident ging, es kam der neue Vereinsboss Olivier Letang, der einst sogar bei PSG gewirkt hatte. Aber wie gesagt: Den Parisern zeigt man es liebend gerne in Lille.

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