Lexikon der Fußball-Gesten:Hand aufs Herz

Vor einiger Zeit hat König Fußball damit begonnen, sein Gestenrepertoire zu erweitern. Für die Verbreitung seiner Ideen beim Volk sorgte die Großaufnahme im Fernsehen. Ein Lexikon in Bildern.

Lothar Müller

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Hugo Almeida (Bremen) jubelt

Quelle: imago

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Vor einiger Zeit hat König Fußball damit begonnen, sein Gestenrepertoire zu erweitern. Die Tradition war gut, sie war stark, sie verknüpfte wie eh und je Vergangenheit und Gegenwart, aber es war doch einiges zu modernisieren. So probierte er manche Neuerung aus, griff hier auf alte Mythen, dort auf soziologische Expertisen zurück. Für die Verbreitung seiner Ideen beim Volk sorgte sein wichtigster Medienpartner: die Großaufnahme im Fernsehen. Sie kommt hier im Kleinformat unseres Lexikons daher. Dafür aber mit Kommentar.

Hand aufs Herz legen

Inbegriff der großen Geste, nähert den Torschützen dem Heldentenor, dem Feldherrn und dem Staatsmann an. Verwandelt den Augenblick nach dem Torschuss in einen historischen Moment. Unbedingt mit der rechten Hand auszuführen. Nach Eigentoren eher selten zu sehen.

Hier im Bild: Bremens Stürmer Hugo Almeida.

Hamburger SV v FC Schalke 04 - Bundesliga

Quelle: Getty

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Der Salto oder Flic-Flac

Aus dem Zirkus importiert. Entführt das athletische Element des modernen Fußballs seiner dienenden Funktion. In der Ära Gerd Müller noch unbekannt. Hoher L'art-pour-l'art- Faktor. In Mehrfachausführung Geste des bedenkenlosen Überschwangs. Spielt mit allem, auch dem Verletzungsrisiko.

Hier im Bild: Piotr Trochowski nach einem Tor gegen Schalke.

Bayern Munich's Toni celebrates his first goal against Frankfurt during their German Bundesliga first division soccer match in Munich

Quelle: Alexandra Beier/Reuters

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Hand ans Ohr legen

Fordert den akustischen Tribut der Fans ein. Hoher Magie-Faktor. Verwandelt das Ohr in einen Trichter, der den Torjubel der Fans einsammelt, bündelt und als kräftigende Substanz ins Innere des Torschützen einführt. Unkonzentriert-fahriges Herumschrauben am Ohr gefährdet diesen Effekt.

Hier im Bild: Luca Toni vom FC Bayern München.

DFB-Pokal - Bayer 04 Leverkusen- Bayern München 4:2

Quelle: dpa

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Haufen-, Traubenbildung

Altgedienter Klassiker, bei dem die Spieler den Lieblingssatz der Trainer verkörpern: Fußball ist Mannschaftssport. Hoher Louis-van-Gaal-Faktor. Sieht aus wie Unordnung, ist aber Triumph der Ordnung. Macht nach dem Torerfolg den Torschützen unter dem Vorwand unsichtbar, ihn zu bejubeln.

Hier im Bild: Bayer Leverkusen nach dem 1:0 gegen Bayern München im DFB-Pokal 2009.

Diego Forlan Atletico Madrid

Quelle: SZ

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Trikot ausziehen

Gegenstück zur Haufenbildung. Streift die Mannschaftszugehörigkeit ab, enthüllt das nackte Ich, gern im Zulaufen auf eine Kamera. Regelverstoß, scheinbar hoher Dschungel-Faktor. In Wahrheit Geste des entfesselten modernen Individualismus. Nimmt für die Selbstfeier gelbe Karten billigend in Kauf.

Hier im Bild: Diego Forlan von Atletico Madrid feiert mit Teamkollegen Sergio Aguero sein Siegestor gegen den FC Fulham im Finale der Europa League.

UEFA-CUP BAYER LEVERKUSEN-UDINESE CALCIO

Quelle: dpa

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Der Diver

Hartnäckig wiederkehrender Versuch, Fußball wie eine Funsportart aussehen zu lassen. Erreicht unter den publikumszugewandten Jubelgesten den höchsten Ranschmeiß-Faktor. Gelingt am besten bei glitschigem Rasen, da aus der Welt der Erlebnisschwimmbäder importiert. Nicht unverzichtbar.

Hier im Bild: Die Leverkusener Jens Novotny, Stefan Beinlich, Adam Matysek und Ze Roberto feiern 1998 ihren Sieg in der ersten Pokalrunde des Uefa-Cups.

Länderspiel - Deutschland -  Bosnien-Herzegowina

Quelle: dpa

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Zeigefinger nach oben

Die Metaphysikerin unter den Jubel-Gesten. Meist mit dem Blick gen Himmel verbunden. Hoher Priester-Faktor. Ignoriert Publikum, Mitspieler und Trainer zugunsten des stummen Dialogs mit höheren Mächten. Macht das Tor zur Opfergabe, das Stadion zum Altar. Wird durch jedes Grinsen ruiniert.

Hier im Bild: Der deutsche Nationalspieler Bastian Schweinsteiger nach dem 3:1 im Testspiel gegen Bosnien-Herzegowina.

DFB-Pokal Werder Bremen - Bayern München

Quelle: dpa

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Eckfahne herausreißen

Aus dem mittelalterlichen Turnierwesen importiert. Selbstverwandlung des Torschützen in einen Fahnenschwinger. Ist als Tanz und Verführung maskiert, hat aber einen hohen Raubritter-Faktor. Gliedert ein Requisit des neutralen Regelwerks in die eigene Mannschaft ein.

Hier im Bild: Bayern Münchens Mittelfeldspieler Bastian Schweinsteiger nach dem 4:0-Sieg im DFB-Pokal gegen Werder Bremen.

FUßBALL-WM FRANKREICH-SÜDAFRIKA TORJUBEL

Quelle: dpa

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Fliehender Torschütze

Sieht aus wie die archaische Horde, die den Ausreißer jagt. Ist aber nur Spiel. Inszeniert den Ausgleich von Mannschafts- und Individualjubel. Torschütze flüchtet vor der Unsichtbarkeit der Haufenbildung, Mannschaft lässt ihn laufen, bleibt ihm aber auf den Fersen. Einholen vorgesehen.

Hier im Bild: Frankreichs Christophe Dugarry freut sich über seinen 1:0-Treffer im WM-Halbfinale 1998 gegen Südafrika.

FC Bayern München - Real Madrid

Quelle: dpa

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Ball untem Trikot

Rückgriff auf den Mythos vom schwangeren Mann. Adressiert den Fußball an die ganze Familie und feiert das Tor als Geburt. Durch Hinzufügung des Daumenlutschens wird der Spieler zur sozialen Skulptur der Kleinfamilie: Vatermutterkind in einem. Ziemlich hoher Pampers-Faktor.

Hier im Bild: Lucio vom FC Bayern freut sich über sein Tor zum 2:0 im Achtelfinal-Rückspiel gegen Real Madrid.

Hamburger SV - Eintracht Frankfurt

Quelle: dpa

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Trikot überm Kopf

Umwertung der archaischen Geste, das Antlitz aus Trauer oder Scham zu verhüllen. Verwandlung des Spielers in einen Dreikäsehoch, der das Fort-da-Spiel spielt: Guckt mal, ich bin weg. Ist er aber nicht. Ist gleich wieder da. Und was will er? Den Beifall der Erwachsenen.

Hier im Bild: Du-Ri Cha von Eintracht Frankfurt jubelte 2005 nach seinem Ausgleichstreffer zum 1:1 gegen den Hamburger SV.

Jens Lehmann (Arsenal)

Quelle: imago

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Gegen den Pfosten treten

Zum Scheitern verurteilte Anwendung der beim beweglichen Ball sinnvollen Schusstechnik auf das feststehende Tor. Abfuhr der in Aggression verwandelten Enttäuschung. Aber hoher Selbstbestrafungs-Faktor. Beim Torwart: Angriff aufs eigene Haus (Symbol des Ich!). Kann weh tun.

Hier im Bild: Ex-Nationaltorhüter Jens Lehmann tritt enttäuscht Holz statt Leder.

Stefan Radu von Lazio und Mirko Vulcinic vom AS Rom geraten beim Lokalderby am 18. April aneinander.

Quelle: imago

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Stirn an Stirn

Stellt den Gegner zum symbolischen Duell (Auge gegen Auge, Nase gegen Nase). Hoher John Wayne-Faktor. Macht sinnfällig, dass Fußball Mannschaftssport und zugleich Zweikampf Mann gegen Mann ist. Verlangt Gespür für Zeit. Salzsäulenversionen wirken eher albern.

Hier im Bild: Stefan Radu von Lazio und Mirko Vulcinic vom AS Rom geraten beim Lokalderby am 18. April aneinander.

Kevin Kuranyi (VfB Stuttgart) jubelt mit einer Schaukel

Quelle: imago

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Die Baby-Schaukel

Post-natales Gegenstück zu Ball unterm Trikot. Entstanden als Widmung eines Tores an den Nachwuchs des Schützen. Davon längst emanzipiert. Die wahren Kinder eines Stürmers sind seine Tore. Ganz moderner Vater, präsentiert er sie stolz den Fans.

Hier im Bild: Kevin Kuranyi vom VfB Stuttgart verknüpft Vaterglück und Torjubel.

© SZ vom 05.06.2010/leja
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