Leverkusener Niederlage:Seiltänzer ohne Netz

Bayer Leverkusen wird auch deshalb im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League demontiert, weil Madrid den Werksklub besser kennt als dieser sich selbst.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Ziemlich viele Betrachter waren sich später darin einig, dass der Schiedsrichter William Collum an diesem sonst sehr anregenden Fußballabend kein guter Schiedsrichter war. Zwar lässt sich auf den einschlägigen Faktenseiten nachlesen, dass die Uefa den Mann aus Schottland, im zivilen Leben Lehrer für Religionskunde, in der Kategorie "Elite-Schiedsrichter" führt und regelmäßig mit der Leitung von Länder- und Europacupspielen betraut. Hierbei könnte es sich jedoch, zieht man die rheinische Europacup-Erfahrung als Maßstab heran, um eine dieser Falschmeldungen handeln, mit denen dunkle Mächte die westliche Gesellschaft zu unterwandern suchen. Collum war nicht schuld daran, dass Bayer Leverkusen das Champions-League-Spiel gegen Atlético Madrid 2:4 verloren hat, auch wenn er den Hausherren einen rechtmäßigen Elfmeter vorenthielt und einen anderen gegen sie verhängte, über den sich streiten lässt. Aber er hat im Laufe der Partie in seinem Fach fast so viele grundlegende Fehler begangen wie der bedauernswerte Leverkusener Verteidiger Aleksandar Dragovic, und das will wirklich etwas heißen.

Einmal allerdings war Collum ein Vorbild an Tat- und Einsatzkraft, was vor allem die Leverkusener beschämen sollte. Es ging um das 2:0 für Atlético in der 25. Minute durch Antoine Griezmann, ein Tor, bei dem außer dem Schützen und dessen Vorlagengeber Kevin Gameiro kein Leverkusener, wohl aber der immerhin eifrige Schiedsrichter auf der Höhe des Geschehens war. Collum war der Einzige, der den Richtung Tatort trabenden Griezmann verfolgte, während es die zuständigen Bayer-Spieler vorzogen, die vergeblichen Abwehr-bemühungen ihrer Kollegen Ömer Toprak und Dragovic aus der Ferne zu verfolgen. Von Dragovic' doppelt missratenen Rettungsversuchen bis zu der auf groteske Weise unterlassenen Hilfeleistung seiner Mitspieler gab dieses 0:2 ein Zeugnis des Versagens der Leverkusener Sicherungssysteme - und stellte somit eine beispielhafte Szene dar.

Fussball Champions League / Bayer 04 Leverkusen - Atletico Madrid

Tore im Sonderangebot: Antoine Griezmann nimmt beim zweiten Tor gerne die großzügigen Offerten der Leverkusener Abwehr an.

(Foto: Anke Waelischmiller/Sven Simon)

"Sehr, sehr naiv" habe man sich verhalten, hat Julian Brandt zugegeben, als er den bitteren Verlauf des Abends reflektierte. Bayer war Atlético in die Falle gegangen, das war die zentrale Erkenntnis, die der 20 Jahre alte Nationalspieler für sein noch lange währendes Spitzenfußballerleben mitnehmen durfte: "Atlético hat uns den Ball gegeben, und wir haben geglaubt, dass wir sie ausspielen und das Spiel leiten können." Außer auf dem Spielfeld hatten Trainer Roger Schmidt und seine Schüler auch an der Taktiktafel verloren, dabei hätten sie schon am Morgen des Spieltages vor sich selbst gewarnt sein können, wenn sie die spanische Presse studiert hätten. Spanische Experten scheinen Schmidts Bayer besser zu kennen als er selbst.

Die Tageszeitung El País etwa klassifizierte Schmidts oft ins Ungestüme ausgreifende Pressing-Strategie als "Selbstmordkommando", das für alle Beteiligten gefährlich sei: "Entweder sie ertränken ihre Gegner oder sie ersaufen selbst." Die Leverkusener Spieler pressten "wie Seiltänzer ohne Netz". Auch das Statement des spanischen Trainers Marcelino García (FC Villarreal) war nicht als Kompliment zu verstehen: "Der Kader gefällt mir mehr als die Mannschaft", urteilte er über den Gegner. Tatsächlich konnte Bayer mit starken Einzelleistungen, gelungenen Passagen im Angriff und einer standhaften Moral gefallen. Dazu rasselten die Zuschauer mit den Ratschen, die sie auf ihren Sitzen vorgefunden hatten, und es herrschte Spektakel-Stimmung, beinahe hätte Bayer zwischenzeitlich das 3:3 geschafft, hurra. Bloß ein einzelnes, letztes Bein war im Weg.

Bayer Leverkusen's Aleksander Dragovic and Omer Toprak look dejected after the match

Geknickt: Die Innenverteidiger des Werksklubs Ömer Toprak (l.) und Aleksandar Dragovic.

(Foto: Wolfgang Rattay/Reuters)

Aber die Kehrseite war die, dass Bayer wild und ohne Selbstkontrolle spielte, und dass all die Vorzüge zu Lasten der nötigen Balance von Offensive und Defensive gingen, was gegen ein blitzartig konterndes Atlético mit Raketen-Spielern wie Griezmann, Gameiro, Carrasco & Co. bekanntermaßen fatal ist. Selbst ohne akuten Gegner-druck erwies sich die Bayer-Deckung als instabil, das unverzeihliche 2:4 durch Torres' Kopfball fünf Minuten vor dem Abpfiff war das Ergebnis. Es lässt die Aussichten auf das Erreichen des Viertelfinales denkbar gering erscheinen.

Roger Schmidt tat das Richtige, als er Aleksandar Dragovic in Schutz nahm gegen die leider unvermeidlichen Anklagen. Der österreichische Nationalspieler Dragovic, im Sommer für äußerst erstaunliche 17 Millionen Euro aus Kiew gekommen, verschuldete durch sein Verhalten zwei Tore, das ließ sich nicht leugnen. Aber Verantwortung für den ständig wiederkehrenden Notstand in der Abwehr trugen viele: außer den oft pflichtvergessenen Mitspielern auch der Trainer, der die entrückten Außenverteidiger Henrichs und Wendell sowie den übereifrigen Kampl nicht einfing und es versäumte, den völlig verunsicherten Dragovic wenigstens zur Pause zu erlösen. Er habe sich Optionen für die Offensive offenhalten wollen, sagte Schmidt dazu. Bei drei möglichen Wechseln klang dieses Argument mindestens seltsam.

"Man muss sehen, wie wir zurückgekommen sind, das war außergewöhnlich. Man sieht, wie viel Leben und Mut in dieser Elf stecken", hob Schmidt immer wieder hervor. Da hatte er recht. Das Resultat des Spiels drückte jedoch aus, dass es wichtigere Themen gab, derer er sich hätte annehmen müssen.

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