Nordi Mukiele wusste, dass er nun die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen musste. Der Abwehrmann stand charmant lächelnd in den Katakomben des Leverkusener Stadions, war mit den Füßen bereits in Schlappen geschlüpft und erwartete am späten Dienstagabend das wohl angenehmste Verhör seines Lebens. Nur beim Flunkern durfte er sich jetzt nicht erwischen lassen, das war ihm mehr als deutlich gemacht geworden.
„Speak the truth!“, blaffte ihm Victor Boniface liebevoll entgegen und spazierte mit einem Schuhkarton in der Hand vorbei. „Speak the truth!“, wiederholte der verletzte Stürmer auf dem Rückweg und schnappte sich kurz darauf in der Leverkusener Kabine den nächsten Schuhkarton. Mukiele, 27, schien weder die Sache mit den Schuhkartons noch Boniface’ späte Fleißarbeit außerordentlich zu wundern. Er fokussierte sich nun auf die Wahrheit und sah sich dabei keinen größeren Strapazen ausgesetzt.

5:1 in der Champions League:Bayern purzelt die Tabelle hinauf
Der FC Bayern gerät beim Champions-League-Gastspiel in Gelsenkirchen gegen Schachtar Donezk in Rückstand, ehe noch vor der Pause das Spiel zugunsten der Münchner kippt. Auch dank Thomas Müller und seiner Einlage per Purzelbaum.
1:0 hatte Bayer Leverkusen in der Champions League gegen Inter Mailand gewonnen, den entscheidenden Treffer schoss Mukiele, indem er den Ball in der 90. Minute aus kurzer Distanz beherzt ins Tor drosch. „Ich fühle mich hervorragend“, berichtete der von Paris Saint-Germain ausgeliehene Mukiele, eine Behauptung, die laut selbstverräterischer Gestik und Mimik definitiv von der Realität gedeckt war. Wichtiger als das Teilen persönlicher Befindlichkeiten war für ihn allerdings, dass der Auftritt des Leverkusener Teams insgesamt „großartig“ gewesen sei und sich aus diesem Sieg „eine ganze Menge“ ablesen lasse.
Zum Beispiel: dass die Werkself, die in der Vorsaison noch absolut lebensbejahend durch sämtliche Wettbewerbe geschwebt war, jetzt auch mit jenen Widrigkeiten umgehen kann, um die selbst die besten Fußballmannschaften über längere Zeitspannen einfach nicht herumkommen. Irgendwann fügt sich halt nicht mehr alles wie magisch zusammen, und irgendwann werden auch für die betörendsten Spielstile effiziente Gegenmittel entwickelt. Die Leverkusener haben das in dieser Spielzeit mitunter leidvoll erfahren müssen. Und doch haben sie sich aus dieser vergleichsweise komplizierten Phase wieder herausarbeiten können – im Spiel gegen Inter durch ein aus der Vorsaison bewährtes Stilmittel: einen Treffer kurz vor Schluss.
Kapitän Xhaka sprach hinterher von einem „erwachsenen“ Leverkusener Auftritt
„Sehr zufrieden“ zeigte sich der Leverkusener Coach Xabi Alonso, immerhin habe man ja gegen „ein Top-Top-Team“ gespielt. Das war auf der einen Seite zutreffend, auf der anderen Seite aber nur die halbe Wahrheit. Zwar war Inter mit der beeindruckenden Bilanz von zuletzt 13 Spielen ohne Niederlage und einer bis Dienstag gegentorfreien Königsklassen-Saison zum deutsch-italienischen Meisterduell angereist. Inters Coach Simone Inzaghi schonte zu Beginn allerdings auch fünf, sechs seiner absoluten Top-Top-Spieler, darunter Flügelmann Federico Dimarco, Spielmacher Nicolò Barella und Stürmer Lautaro Martínez. Ein Remis, so hatte es auch während der gesamten Spieldauer den Anschein, wäre für die Mailänder ein mehr als passabler Ertrag gewesen. Es spricht jedoch für die Leverkusener, dass sie Inter diesen Punktgewinn keinesfalls zugestehen wollten.
Die Partie verlief weitestgehend spannungs- und ereignisarm; sie schaffte es aber trotzdem, einige überbordende Themen der bisherigen Leverkusener Saison zu berühren. Coach Xabi Alonso musste mal wieder ohne echten Mittelstürmer auskommen, weil außer Boniface auch der zuletzt formstarke, aber immer wieder von kleineren und größeren Wehwehchen geplagte Patrik Schick keine Einsatzfähigkeit anmelden konnte. Ganz vorne wechselten sich deshalb die schmächtigen Florian Wirtz und Nathan Tella ab, wobei den beiden weit mehr als nur handelsübliche Mittelstürmer-Dienstleistungen abverlangt werden.
Sie sollten enge Maschen um den Mailänder Spielaufbau ziehen. Diesen Gegner unter Druck zu setzen, sei „enorm schwer“, erklärte Alonso, das liege an Inters ständigen Rotationen und schwer kalkulierbaren Tempowechseln – und nicht zuletzt habe in diesem Vorhaben ja auch die Gefahr gesteckt, dass ein Hochrisiko-Pressing jene Räume öffnet, in die der pfeilschnelle Inter-Angreifer Marcus Thuram so gern hineinsaust. Weil Wirtz und Tella dabei unter anderem von den weit aufgerückten Außenverteidigern Jeremie Frimpong und Piero Hincapie unterstützt wurden, gelang es der Werkself, ein seriöses Gefahrenmanagement zu betreiben. Inter blieb harmlos. Und die Leverkusener, die vor allem im Ligabetrieb öfter mal durch defensive Nachlässigen aufgefallen waren, konnten sich hinterher einen „erwachsenen Auftritt“ (Kapitän Granit Xhaka) bescheinigen.
Die Leverkusener sind seit sieben Spielen ungeschlagen und kommen immer besser in Fahrt
Der Mittelfeldmann verwies außerdem auf die Leistungskurve, die jüngst deutlich nach oben zeigte, und darauf, dass die Mannschaft zuletzt Herausforderungen aller Art bewältigt habe. Sowohl für den Aufsteiger St. Pauli als auch gegen Italiens Meister Inter seien die richtigen Lösungsansätze gefunden worden. „Das gibt Selbstvertrauen“, sagte Xhaka und meinte damit explizit auch den Torschützen Mukiele: Der Franzose hatte in dieser Saison mit Verletzungen zu kämpfen und kleinere Anpassungsschwierigkeiten, obwohl er die Bundesliga noch aus früheren Zeiten bei RB Leipzig kennt.
Mukieles Treffer sei natürlich „das Highlight“ gewesen, sagte Alonso, aber auch sonst habe er von ihm „viele gute Dinge“ gesehen. Letztlich brauche eben alles „seine Zeit“. Die in der Vorsaison unbezwingbaren Leverkusener jedenfalls sind seit sieben Pflichtspielen ungeschlagen und in der Champions-League-Tabelle auf den zweiten Platz vorgerückt. Die Einfindungsphase in die erste Titelverteidiger-Saison der Klubgeschichte mag ein Weilchen gedauert haben. Aber es gibt nahezu gerichtsfeste Argumente dafür, dass die Werkself langsam aber sicher drin ist.